Blog Stadtteilschreiber

Der Stadtteilschreiber gratuliert zum 199. Geburtstag

ZEIT FÜR (SUPER)HELDEN - ENGELS IM FEINEN STÖFFCHEN

Es ist der Tag des 199. Geburtstags von Friedrich Engels. Wuppertal bereitet sich vor, ein Jahr lang den berühmten Sohn der Stadt (Barmen) zu feiern. Ihm auf die Finger zu gucken. Zu hinterfragen. Mit ihm zu spielen. Ich bin gedanklich mit dem überaus üppigen Programm der „börse" zu ebendiesem Engelsjahr beschäftigt, während ich die Wicküler City betrete - eine Stadt in der Stadt (Wuppertal), die ihren eigenen Rhythmus hat und keinen Weihnachtsmarkt.

Ja, stell dir Wicküler City ruhig so ganz anders vor, comic-haft, Gotham City nicht unähnlich, nur ruhiger und - viel leerer. Mehr so Ghost City. Ich überschreite die Grenze über die südliche Höhe, überlebe einen dunklen Tunnel, der kilometerhoch über Bahngleise führt, beobachte gerade einige fliegende Vehikel (wir befinden uns im „Blade Runner"-Jahr!), als ich einen Schatten bemerke (sooo dunkel ist es nicht). Aber da ist niemand. Ist ja Ghost City.

In letzter Zeit hatte ich viel Pech; umso fröhlicher stimmt es mich, dass es auf den ewig langen Rollbändern jetzt mal nur langsam bergab geht. Ich rolle also so vor mich hin. Im übertragenden Sinne. Da wieder! Ein Schatten! Ein Huschen! Eine Silhouette. Angst ist ein schlechter Berater, aber wenn es einen angemessenen Moment für sie gibt, dann jetzt! Uaahhh. Wer dort?

Würde man den alten Friedrich, oder besser: die junge Version des alten Friedrichs heute treffen, würde er einem rein äußerlich kaum auffallen. Die reifere Variante mit Rauschebart würde man in Utopiastadt sogar erst nach viel Anquatschen sehr ähnlicher Modelle überhaupt erst finden. Engels war hip, war fresh, war frech, war ... seiner Zeit voraus. Das wird mir klar, als er jetzt auf einmal vor mir steht. Und wie das in diesen ganz ungewöhnlichen Momenten im Leben nun mal so ist: Was richtig Kluges entfährt einem nicht.

„Happy Birthday", sag ich leise. Und dann staune ich darüber, dass er es gar nicht seltsam findet, mich zu treffen. Ganz im Gegenteil, erzählt er mir vom aktuellen Stand in seinem langen Leben und klärt mich en passant darüber auf, dass wir uns hier und jetzt natürlich nicht in Ghost City, sondern bestenfalls in Ghost Town, eigentlich aber in Engelstown befinden, benannt von und nach ihm.

Engelstown sei überall dort, wo der Konsum weitestgehend - wenn auch nur temporär - in die Knie gegangen sei. Engelstown sei friedlich, maßvoll, schon mal laut, dann aber auch widerhallend UND vor allem Rückzugsort für ihn, um zum einen Ruhe vor dem maximalkonsumierenden Volke zu finden als auch zum anderen in einem ihm würdigen Trainings- und Umkleideraum den nächsten Einsatz proben zu können. Spricht's und demonstriert einen atemberaubenden Parcourslauf über Rollbänder, Treppen, Wände und Mäuerchen. Ich nutze die Gelegenheit und schiebe mir den gerade erworbenen Laptop unter die Jacke, um selber nicht als fiese Fratze des Kaufwahns entlarvt zu werden.

Wofür?, frag ich mich wieder und wieder, wofür trainiert der Mann denn bloß? „Als wer oder was", muss es aber eigentlich heißen, wird mir klar, als Engels vor mir zum Stehen kommt, sich eine gut 160 Jahre alte Jacke vom Leib reißt, unter der ein glänzender roter Stoff zum Vorschein kommt (Feinstes Trikotstöffchen, wie es sich damals nur Textilunternehmersöhnchen leisten konnten). Auf der Brust ein Emblem: SF. Superfriedrich. Endet mein Tag in einem Marvel-Abenteuer? Nein. Er würde in einer Art Moral enden, wäre ich nicht so schrecklich hungrig und schon dem Wicküler-City-Feinkost-Döner auf der Spur (Erst kommt das Fressen ...).

Superfriedrich würde mir nämlich erzählen, dass er unnachgiebig rausgeht in die Stadt mit Weihnachtsmarkt, um wenigstens hin und wieder eine verlorene Seele davor zu bewahren, ihre Identität in Produktpaletten zu suchen und nicht zu finden. Er würde mir erzählen, dass dies ausgesprochen wichtig für die Menschheit sei und dass er festgestellt habe, fast 200 Jahre nach seiner Geburt und vor dem Hintergrund des aktuellen Weltgeschehens müsse man ihm mehr denn je huldigen. Dann würde er mich sehr verstören mit dem Hinweis: „Einen Tag vor dem Black Friday einen Laptop gekauft? Anfänger!"

Nach getanem Verzehr laufe und rolle ich also erneut durch die City, die keine ist. Ich möchte Engels auf das Programm der „börse" zum Engelsjahr aufmerksam machen, denn es ist sehr gut. Ich treffe ihn nicht wieder an und beschließe, wenigstens ein paar Zeilen darüber zu schreiben.

Der Laptop fühlt sich nach dem Auspacken fast noch produktionswarm an, herrlich.

 

Fotos: Jörg Degenkolb - Degerli

+++ Projekt-Ticker +++ Im neuen „Erzählsalon" kommen Menschen aus den Quartieren Hesselnberg und Südstadt zu Wort. Gäste der Auftaktveranstaltung am 11.12. sind Selly Wane, die seit einigen Jahren das Café Swane leitet, sowie Imam Sy, der in den 90ern als 17-jähriger Austauschschüler aus Senegal ein Jahr in Ostfriesland lebte. Ebenfalls zum Thema „Alte Heimat - neue Heimat?" erzählt die gebürtige Französin Danielle Bouchet eine Kurzgeschichte aus ihrem Leben. Jörg Degenkolb-Degerli, der seit April als Stadtteilschreiber aus den Quartieren Hesselnberg und Südstadt berichtet, wird den „Erzählsalon" moderieren. +++

Euch fällt was Berichtenswertes ein? Dann eine E-Mail an stadtteilschreiber@dieboerse-wtal.de!

 

Das Projekt "Stadtteilschreiber" wird gefördert von

 

 

Veröffentlicht am 29.11.2019

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