Blog | Essaywettbewerb - Friedrich Engels

Lennart Rettler - eingereicht am 17.5.2020

Wer hat Angst vorm roten Mann?

„Ein Gespenst geht um in Europa – Das Gespenst des Kommunismus." Alle Mächte des neuen Europas haben sich allerdings schon lange von einer heiligen Hetzjagd dieses Gespenst distanziert, der Papst und der Orban, Merkel und Macron, französische Gelbwesten und deutsche Montagsdemonstranten. Sie alle müssen das Gespenst nicht mehr jagen, denn es verbreitet keine Furcht mehr.

Treffend haben Engels und Marx 1848 zu Beginn des kommunistischen Manifests den Kommunismus mit der Metapher des Gespensts versehen. Das Gespenst verkörperte regierungsoberhauptübergreifend Furcht und Angst, war Nährboden für Auseinandersetzungen aller Art, wurde rhetorische Waffe zur Marginalisierung ganzer Völker und Bestandteil von Parteinamen. Heute mag sich kaum einer mehr so nennen. Kommunist. Oder Marxist (Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass ich aus Gründen der Lesbarkeit das generische Maskulin verwende. Dabei sind aber stets Vertreter jeden Geschlechts gemeint). Während es vielleicht noch dem ein oder anderen Twitter-User eine gewisse Edgyness in der Profilbeschreibung verleiht, ist die Verwendung einer dieser Begriffe im Namen einer Partei fernab jeglicher Möglichkeit, wenn die Partei ernsthafte Interessen verfolgt, in das deutsche Parlament einzuziehen.

Zum einen existiert noch die Exuvie der KPD, zum anderen die marxistisch-leninistische Partei, die sich im Schwimmbecken der Bedeutungslosigkeit neben Jürgen von der Lippe und LED-Wasserkochern unermüdlich am Beckenrand festklammert, in der Hoffnung, durch massiven Werbeeinsatz doch nicht zu ertrinken. So schaffen alle drei es aus unerklärlichen Gründen, unabhängig ihrer eigentlichen Lächerlichkeit, dennoch irgendwie Menschen über ihre fortwährende Existenz zu informieren. Aber niemand fürchtet die marxistisch-leninistische Partei. Niemand. Außer vielleicht der Autor dieses Textes, der in stetiger Furcht lebt, beim Schreiben ihres Namens einen Fehler zu begehen. Sonst fürchtet eigentlich niemand die marxistisch-leninistische Partei (An dieser Stelle möchte ich meiner Rechtschreibekorrekturhilfe danken).


Metaphern sind allseits als Erklärer von Lebenswelt und als Verständnisprothese bekannt. Es lohnt sich dem der Metapher zugrundeliegenden Bedeutungszusammenhang, in unserem Fall dem zwischen Gespenst und Kommunismus, genau auf den Grund zu gehen, um die Erklärungskraft der Metapher in ihrer Gesamtheit zu verstehen: Gespenster verursachen Furcht. Allein das Wissen über ihre Existenz, die Einbildung ihrer Wirkmächtigkeit lässt Menschen sich fürchten. Es ist doch die Beklemmung ob ihrer nicht vorhandenen Physis, das Ausmalen ihrer Größe und Kräftigkeit, die Gespenster zu einem Objekt der Furcht werden lassen. Gleichzeitig lassen sie sich trotzdem wahrnehmen, wenn auch nicht realistisch-visuell: Ihre Existenz stützen wir auf unheimliche Geräusche oder anders nicht zu erklärende Phänomene, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können.


Die Furcht verfüge laut einer definitiv nicht fehlerfreien, aber von Gymnasiallehrern stets zu Unrecht marginalisierten Online-Enzyklopädie, basierend auf den Ausführungen Siegbert Warwitz, „über einen innerweltlich erfassbaren Gegenstand, sei meist rational begründbar und auf ein Konkretum gerichtet, das als reale Bedrohung wahrgenommen werde." Synonyme der Furcht sind zum einen positiv konnotierte Begriffe wie Achtung, Anerkennung oder Hochschätzung – vor allem im Sinne der Ehrfurcht. Zum anderen bestehen negativ konnotierte Synonyme von Furcht im Sinne der Angst.


Der Begriff Angst
Die Ausschreibung des Essaywettbewerbs „Friedrich Engels – Vorgestern, gestern, morgen?", verweist zur Begriffsklärung der geforderten Literaturgattung auf die bereits erwähnte und von vielen Gymnasiallehrern verachtete Online-Enzyklopädie (was den wertfreien Schluss zulässt, dass es sich bei den Veranstaltern vermutlich nicht um Gymnasiallehrer handelt), in der zur Form der Literaturgattung Essay geschrieben steht: „Jeder neue Begriff wird eingeführt und vorgestellt." Also geschieht dies nun mit dem Begriff der Angst. Meine Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser, darf ich vorstellen: Die Angst.


Während die Furcht auf etwas bestimmtes gerichtet ist, ist die Angst gegenstandslos. Die Angst beschreibt ein Grundgefühl, das sich in als bedrohlich empfundenen Situationen als Besorgnis und ein Gefühl der Unlust äußert. Diese Gefühle werden dabei durch erwartete Bedrohungen, etwa der körperlichen Unversehrtheit, der Selbstachtung oder des Selbstbildes, generiert.


Nachdem sich nun hoffentlich genügend Gymnasiallehrer ängstlich, wütend oder angegriffen fühlen, ist es an der Zeit, sich auch an renommierteren Quellen zu bedienen. (Mit der Zitation bekannter Namen kann man sich in der Regel die Anerkennung älterer Begutachter sicher sein. Oft weisen Leser der Quelle größere Bedeutung als ihrem Inhalt zu. Das beschreiben zum Beispiel Richard E. Petty und John T. Cacioppo [bekannte Namen] in ihrem bedeutenden Elaboration Likelihood Model. Besonders gut funktioniert dieser Quelleneffekt übrigens bei Autoren, die zwischen Vor- und Nachnamen noch ein mit einem Punkt versehenes Kürzel platzieren).


Laut Kierkegaard soll Angst tief in das Leben des einzelnen einwirken und ihn dadurch entweder lähmen oder konträr sogar zu besonderen Leistungen befähigen. Einer Angst muss sich der Mensch stellen. Ihr begegnen, sie meistern. Nur dann kann er in seiner Entwicklung voranschreiten. Ein Ausweichen der Auseinandersetzung hemmt und führt zur Stagnation in der Entwicklung.


Vermutlich ist dem ein oder anderen Leser der nun folgenden Argumentationsstrang des Autors bereits bewusst. Doch lassen Sie den Autor doch sein Wissen aus dem Philosophiekurs der elften Klasse anwenden (um die Gymnasiallehrer wieder positiv zu stimmen), und den Argumentationsgang mit Hilfe eines simplen Syllogismus veranschaulichen:


Erste Prämisse: Gespenster verursachen Angst oder Furcht.


Zweite Prämisse: Der Kommunismus ist ein Gespenst (also zumindest in der Metapher).


Conclusio: Der Kommunismus verursacht Angst oder Furcht.


Da nun hoffentlich alle Gymnasiallehrer wieder an Bord sind, kann mit dieser Zwischenerkenntnis weitergearbeitet werden.


Angst oder Furcht oder beides
Da ein Essay seine Wirksamkeit ob der präzisen und genauen Verwendung der richtigen Begriffe entfaltet, muss sich auf einen Begriff geeinigt werden. Also was verursachen Gespenster denn jetzt? Angst oder Furcht? Oder doch beides? Eine Unterscheidung der beiden Begriffe ist jedoch nicht ausschließlich von Bedeutsamkeit, um den stilistischen Anforderungen des Essays gerecht zu werden, sondern vor allem, da den Begriffen in den zugrundliegenden Konzepten maßgebliche Unterschiede sowie Umgangsformen zugeschrieben werden.


Wie eingangs erläutert benötigt die Furcht eine konkrete, definierte, zu Teilen auch mittels der Sinne wahrnehmbare Bedrohung. Marx' und Engels' Gespenst von 1848 war ein Gespenst zum Fürchten. Das Gespenst war nicht direkt präsent und doch da. Noch Fernab einer gemeindeutschen Institutionalisierung, wurde der Kommunismus in den Folgejahren des Manifests zu einer politischen Ansicht, die sich unter den Proletariern aller Länder verbreitete und eine reale politische Wirkmächtigkeit darstellte. Ergo verbreitete das Gespenst Furcht bei politischen Gegnern. Bei solchen, die in Parlamenten die Einschränkung der Tragkraft ihrer institutionalisierten Ideologie befürchteten und bei anderen, die außerhalb realpolitischer Schauplätze die Standhaftigkeit der verinnerlichten Ideologie bedroht sahen. Furcht vor dem Gespenst des Kommunismus meint also Furcht davor, dass eine kommunistische Partei an die Macht kommt, Furcht davor, dass man durch kommunistische Politik seine Privilegien einbüßen müsse, Furcht davor, dass eine liberale Politikausübung eingeschränkt wird, Furcht vor einer konkreten Bedrohung.


Damit das Gespenst des Kommunismus Furcht verbreiten kann, muss dieses identifizier- und definierbar sein. Über die Jahre und Jahrzehnte hat sich die Identifizierbarkeit des Kommunismus und artverwandter Ideen jedoch aufgelöst. Das Gespenst ist fluide geworden, hat seine Form verloren, ist nicht mehr definierbar. Lange war Kommunismus in Deutschland eine zu beachtende Wirtschaftsidee, die Solidarität und Organisation von Arbeitern, ein realpolitisch denkbares Szenario. - Was ist Kommunismus heute? Ein Wort in einer Twitter-Bio? Die Ausführung eines Parteikürzels einer Partei, die weit unter einem Prozent aller Stimmen bekommt? Ein Buzzword? - Dem Kommunismus fehlt der Körper, die Begegnung; er ist fluide, gasförmig. Kommunismus, Sozialismus, Marxismus oder jedwede artverwandte Form sind von der täglichen Lebenswelt so weit entfernt, wie Artikel der BILD-Zeitung von seriösem Journalismus (lustige Vergleiche kommen auch immer top an!).


Da wo keine Dielen mehr knarren
Lassen Sie mich den Unterschied der beiden Begriffe noch ein wenig weiter ausführen, damit die Folgen im Umgang mit dem Gespenst des Kommunismus in heutigen Tagen präzise zu verstehen sind. Um als Gespenst Furcht ausüben zu können, muss es Menschen heimsuchen, sie aufrütteln, sie konfrontieren. Es muss eine irgendwie definierbare Größe darstellen. Und wenn diese Größe nur das Zischen des Windes, das Knarren der Dielen ist. So wird ein Gespenst definierbar. Heute knacken keine Dielen, zischt kein Wind mehr. Das Gespenst des Kommunismus in seiner von Engels und Marx gedachten Form ist in der Allgemeinheit aktuell kaum wahrnehmbar und ergo auch nicht definierbar. Der Einfluss der Gewerkschaften sinkt, keine Bundestagspartei hat die kommunistischen Grundidee wirklich verinnerlicht und die Macht der Großkonzerne, gerade im Technologie-Bereich, steigt ins Unermessliche. Und an die Stelle der durch Wahrnehmbarkeit und Definierbarkeit ausgelösten Furcht, tritt der Zustand der Angst, der Zustand einer Anspannung gegenüber etwas, das man gar nicht wirklich wahrnehmen kann und dessen vermeintliche Bedrohung keinen Wert in der aktuellen Situation darstellt. Das Gespenst ist nicht mehr mit Furcht, sondern nur noch mit Angst verknüpft.


Jetzt mag nun der ein oder andere anmerken: „Naja ob der Kommunismus jetzt Angst oder Furcht auslöst ist doch egal. Meint ja eh fast das Gleiche." An dieser Stelle gilt es dem einen oder anderen entgegen dem höchsten Privileg der Meinungsfreiheit einfach mal entschieden den Mund mit Panzerband zuzukleben, denn der Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen ist in der Psychologie und in der hier aufgestellten Metapher enorm. Gerade der Umgang mit Angst und Furcht zeigt, dass die beiden Begriffe so sehr „fast das Gleiche" sind, wie Napoleon Bonaparte und ein Chihuahua, dem man auf den Schwanz tritt. Beide sind trotz ihrer kleinen Körpergröße ziemlich streitsüchtig, trotzdem würden wir vom Chihuahua nicht erwarten, dass er aus seiner Streitsucht heraus gleich die ganze Welt erobern möchte.


Angst und Furcht sind Teil einer ähnlichen Kategorie, teilen Gemeinsamkeiten, besitzen aber dennoch unterschiedliche Eigenschaften. Oder anders gesagt: Wären die Begriffe zwei Tiere, so könnten sie maximal sterile Nachkommen miteinander zeugen.


Das Abbild der Angst
Angst entsteht, im Gegensatz zu Furcht, oft ohne eine konkrete Quelle. Vielmehr ist es die Vorstellung dieser, die die Angst auslöst und vorantreibt. Angst ist langanhaltend und die ihr zugrundeliegende Gefahr ist nicht akut, sondern antizipiert. Wir nehmen also an, dass das Gespenst des Kommunismus, also der Kommunismus selbst, heute keine Furcht, sondern vielmehr Angst auslöst. Das ist für das Verhältnis der Menschen zum Kommunismus oder kommunistischen Ideen unheimlich gravierend. Um das zu verstehen, muss man sich die Angst genauer anschauen und betrachten, wie Menschen mit Angst umgehen.


Die Angst zieht ihre Macht, ihr Wirken und ihr Bestehen aus der fluiden Vorstellung einer unkonkreten Bedrohung. Einem selbsterschaffenen Abbild, das im Gegensatz zum realen Objekt der Angst übermächtig erscheint. Das Abbild kann dabei also nie der Realität entsprechen. Es ist in der Vorstellungskraft immer größer, gefährlicher und bedrohlicher als in seiner tatsächlichen Form. Deutlich größer auch als im Zustand der Furcht. Oder um die Metapher einmal herunter zu brechen: Ein richtig von Angst von dem Kommunismus oder artverwandter Ideen betroffener Mensch wird nie das tatsächliche Objekt, sondern immer ein imaginiertes Abbild dessen wahrnehmen. Oder noch konkreter: Eine Erbschaftssteuer ist nie nur eine Erbschaftssteuer, sondern immer eine auf Neid basierte, krude Idee kommunistischer Ideologen, die alle Menschen gleich machen will.


Entwickelt sich die Angst vor einem bestimmten Objekt zu einer lebenseinschränkenden Gegebenheit, so sprechen Psychologen von einer Angststörung. Laut DSM-5 (psychologisches Kategorisierungssystem) tritt die Angst bei einer Angststörung stärker und deutlicher auf, als unter den betreffenden Umständen angemessen wäre. Ein Teil der Angststörungen sind die spezifischen Phobien. Dort adressiert die Angst spezifische Situationen, Umstände oder Objekte.


Es ist fernab jeder gängigen psychotherapeutischen Praxis und kein vernünftiger Psychotherapeut würde sich auf so etwas einlassen, aber da ich nun mal keiner bin, darf ich getrost folgendes tun: Ich tätige eine Ferndiagnose und attestiere der deutschen Gesellschaft eine Kommunismus-Phobie (aktuell noch nicht existierend, falls einer unter Ihnen Lesern Möglichkeiten der ärztlichen Krankheitsbilderstellung besitzt, möchte ich gerne beteiligt werden)!


Die Kommunismus-Phobie
Die Kommunismus-Phobie (leider kein fancy Latein-Name möglich wegen zu später Entwicklung des Kommunismus) zeichnet sich durch unangemessene und übertriebene Reaktionen auf jede direkte oder entsprechende Verwendung der Begriffe „Kommunismus, Sozialismus, Marxismus, Engels, Marx, Umverteilung, Steuern, Proletariat, Fairness oder gerechter Lohn" aus. In Folge der Nennung dieser Begriffe bricht der von der Kommunismus-Phobie betroffene Mensch direkt in Angstzustände aus: vor seinem geistigen Auge ziehen kilometerlange Paraden samt unzähliger Flaggen und Uniformen über einen riesigen Platz, ein staatlicher angestellter Geldeintreiber entwendet sein gesamtes Vermögen von seinem Bankkonto und seine Freiheit, zwischen 187 verschiedenen Seifenspendern zu wählen, löst sich in rote Luft auf. In Folge dieser Vorstellungen treten aus dem von Kommunismus-Phobie betroffenen Subjekt typischerweise Äußerungen wie: „Willst du Zustände wie in der DDR?", „Dann wird niemand mehr was leisten und alle nur faul rumlungern" oder „Ich will mich FREI zwischen 187 Seifenspendern entscheiden können!!!", heraus (ergänzen Sie gerne die Liste, damit wir das Krankheitsbild noch genauer definieren können).


Spezifische Phobien haben in der Regel eine Beeinträchtigung der Lebensqualität zur Folge. Eine Zoophobie, die Angst vor bestimmten Tieren, beeinträchtigt beispielsweise, wie frei sich eine Person im normalen Leben bewegen kann. Auch bei Betroffenen der Kommunismus-Phobie zeigen sich solche Folgen: Die Betroffenen wählen Parteien, die nicht ihre Interessen vertreten und beschweren sich dann über ein mühseliges Leben. Sie fördern die Ausweitung der Großkonzerne, die ihre eigenen Löhne nach unten treiben.
Bei spezifischen Phobien tritt häufig ein Vermeidungsverhalten auf. Menschen mit der Zoophobie meiden beispielsweise Orte, an denen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit dem mit Angst besetzten Tier begegnen können. Von der Kommunismus-Phobie Betroffene meiden jeden Ort, jede Idee, jeden Ansatz, der auch nur im Entferntesten etwas mit dem Grundgedanken der kommunistischen Theorie zu tun haben könnte. So wird es nie zu einer vernünftigen Auseinandersetzung mit dem Objekt der Angst kommen. Dabei ist Konfrontation das einzige, das die Kommunismus-Phobie heilen könnte.


Brechen wir die Angst herunter
Wie Kierkegaard behauptete (bekannter Name, ist also sehr wichtig was jetzt kommt) ist eine Auseinandersetzung mit dem, was uns Angst und Furcht bereitet, unerlässlich, um im Leben voranzukommen. Der Mensch muss sich also mit seinen Ängsten beschäftigen, um sie zu ergründen, über sie hinwegzukommen oder ihnen vielleicht etwas Positives abgewinnen zu können. Einer Konfrontation mit der Angst aus dem Weg zu gehen, ist ihr Nährboden. Diese Konfrontation gelingt in der Psychotherapie über die Expositionstherapie, die wirksamste Therapie bei spezifischen Phobien, mit einer Erfolgsquote von über 90 Prozent.


In Folge einer Expositionstherapie ist die Angst fortwährend verschwunden oder erheblich gelindert. Die Expositionstherapie will via Konfrontation ein Gefühl dafür vermitteln, dass das Vorstellungsbild über das mit der Angst versehene Objekt nicht mit dem Realbild des Objekts übereinstimmt. Am Ende einer erfolgreichen Expositionstherapiere erfährt der Patient, dass das Objekt nicht so schlimm, so beängstigend ist, wie angenommen. (Dieser Essay ist übrigens meine Expositionstherapie zur Allodoxaphobie). Durch die Exposition könnte bei Kommunismus-Phobikern ein Gefühl über kommunismustheoretische Ideen entstehen, auf Basis dessen die Betroffenen erkennen, dass die Einführung einer Erbschaftssteuer nicht gleich das Leistungsprinzip vernichten und alle Menschen gleichschalten will. Diese Form der Exposition findet aktuell leider nicht oder nur geringfügig statt.


Die größte Konfrontation mit kommunistischen, sozialistischen oder marxistischen Ideen entsteht aktuell über ein Tier. Ein Känguru, um genau zu sein. Das kommunistische Känguru, um noch genauer zu sein. Und es ist schon irgendwie bezeichnend, dass Ideen in der Tradition des Kommunismus nicht durch den Mund eines Theoretikers, sondern durch den eines sprechenden Kängurus massentauglich werden. Dabei wird entspanntes Zunicken zu den Witzen des auf Amazon gekauften Hörspiels schon den Revolutionsansprüchen der meisten gerecht.


Oft ist der Grund für Lachen, dass wir etwas verstehen. Wir lachen, wenn das Känguru offensichtliche Missstände anspricht, weil wir verstehen, dass diese Missstände existieren. Trotzdem verschwenden wir keinen Gedanken daran, dass kommunistische Ideen diese Missstände vielleicht auflösen könnten. Denn es findet keine richtige Exposition mit der Angst statt. Ein sprechendes Känguru ist ein sprechendes Känguru ist ein sprechendes Känguru. Und bleibt damit immer etwas Surreales. Etwas, das es schlichtweg nicht geben kann. Und dieses surreale Etwas spricht kommunistische Ideen aus, womit diese ebenfalls immer surreal bleiben. Vielleicht begegnet man Marx und Engels in der Schule, vielleicht im Studium, aber wie oft im normalen Erwachsenenalltag? Zu oft neigen die Menschen direkt zu Vermeidungsverhalten, wenn auch nur das Wort kommunistisch oder ein artverwandtes fällt. Häufig reicht auch schon das Wort sozial. Eine solche Vermeidungsstrategie wird nie zu einer konstruktiven Auseinandersetzung mit dem Erbe Engels' führen.


Es bedarf also einer größeren Exposition, um aufzuzeigen, dass kommunistische Ideen nicht dem Vorstellungsbild vieler unter Kommunismus-Phobie leidender Personen entsprechen. Gleichzeitig muss jedoch betont werden, dass die Angst in einer spezifischen Phobie in seiner Form als Phobie unangemessen und übertrieben ist, dennoch nicht fernab möglicher Rationalitäten steht. Eine Vogelspinne KANN unheimlich gefährlich, gar lebensbedrohlich sein; das heißt aber nicht, dass sie es immer ist und noch weniger heißt das, das jede andere Spinne eine solche Bedrohung darstellt. Auf kommunistische Ideen, wenn nicht gleich zu sagen auf dem Kommunismus, lassen sich autoritäre Regimes gründen, die dem Menschen schaden, definitiv lebensbedrohlich sein können. Es heißt aber auch, dass nicht jede kommunistische oder sozialistische oder gar soziale Idee eine Bedrohung darstellt, vor der die Menschen Angst haben sollten. Kommunistische, sozialistische oder marxistische Ideen sind mannigfaltiger als Spinnen-Arten.


Eine Expositionstherapie soll auch nicht zwangsweise in einer wundervoll positiven Beziehung zum vorher mit Angst versehenen Objekt münden Eine Expositionstherapie bei einer Arachnophobie will nicht erreichen, dass sich Menschen danach eine Spinne zu Hause halten, sondern, dass sie den Gedanken an eine Spinne ertragen können und dieser auch begegnen können. Eine Exposition bei der Kommunismus-Phobie soll nicht dazu führen, dass sich jeder in Deutschland wieder mit „Genosse" begrüßt, sondern, dass man offen und ohne Vermeidungsverhalten des Gegenübers über kommunistischen Ideen sprechen kann. Egal on im Bundestag, am Weihnachtsesstisch oder in der Stammkneipe. Dass Ideen, die auf kommunistischen Idealen gründen, nicht direkt im Keim erstickt werden. Die Exposition mit kommunistischen Werken will nicht erreichen, dass das kommunistische Manifest direkt politisch und wirtschaftlich in die Tat umgesetzt wird. Engels' und Marx' Theorien sind heute sicherlich nicht mehr vollständig zeitgemäß. Systeme haben sich verändert, Thesen wurden widerlegt. Eine komplette Durchsetzung im Sinne des kommunistischen Manifests ist für unsere aktuelle Gesellschaft vermutlich nicht optimal.


Die Kommunismus-Phobie kann also auf teilrationalen Ängsten gründen. Ihre Ausprägung als Phobie und die damit verbundene irrationale Angst vor alldem, was irgendwie an Kommunismus, Marxismus oder Sozialismus erinnert, ist jedoch eben unangemessen, irrational und schränkt die Betroffenen in ihrer Lebensqualität ein.


Konfrontieren wir die Leute mit Engels
Welche Bedeutung hat also Engels in unserer Gegenwart? Keine reale, sondern nur eine abbildliche dessen, für das er wirklich stand. Er und seine Ideen werden großteilig konnotiert mit Vorstellungen, Einstellungen und Projektionen, die unangemessen sind. Deswegen bedarf es einer aktuellen Exposition mit Engels oder artverwandtem Werk. Damit die Angst schwindet und unsere Auseinandersetzung mit seinen Ideen ihren Höhepunkt nicht nur in kurzen Lachern findet. Damit wir nicht nur Verstehen, dass Missstände, wie die Verarmung der vielen und der immer wachsende Reichtum der Reichen, existieren, sondern, dass die Gesellschaft auch Mittel besitzt, mit denen sich diese Missstände verbessern lassen. Und in diesem Sinne, alles Gute Engels, danke an die, die mich mit dir konfrontiert haben und danke an die Initiatoren des Wettbewerbs, dass auch sie zur Exposition beitragen.

Der Autor

Lennart Rettler wurde 1996 in Witten geboren und hat von der Stadt seit dem nicht mehr viel gesehen. Aktuell absolviert er seinen Master in strategischer Kommunikation an der WWU Münster und ist generell von allem fasziniert was mit Kommunikation zu tun hat.

Manchmal macht er Poetry Slams oder StandUp-Comedy, weil man damit aber meistens nur Biermarken verdienen kann, ist er noch als Dozent für Social Media Management und als Stadtführer in Münster tätig.

Veröffentlicht am 17.05.2020

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