Blog Essaywettbewerb - Friedrich Engels | Kulturrucksack

Hannah Halekotte - eingereicht am 30.5.2020

Was können wir mit Engels lernen?

Alles auf der Welt, ob Gedanken, die Natur oder die menschlichen Gesellschaften, ist in Zusammenhängen und Wechselwirkungen dynamisch verbunden und unstet im ständigen Werden und Vergehen begriffen. Dies hat schon Engels (und nicht als erster) erkannt und für beschreibenswert gehalten und beschreibenswert ist es auch, denn nur wenn wir dies im Bewusstsein halten, verstehen wir, dass wir unser Wissen, aber auch die folgerichtigen Entscheidungen ständig erneuern müssen, auch wenn es nicht zu unserem Alltagswissen passt. Denn das beinhaltet Selbstverständlichkeiten, die zu hinterfragen uns nicht nahe liegt.

Hereinsozialisiert wurden wir hier in gesellschaftliche und gedankliche Selbstverständlichkeiten eines sogenannten "Industrielandes"1, was ein Begriff ist, der traditionell gegenüber den "Entwicklungsländern" kontrastiert, den Ländern, die uns hinterherhinken, uns irgendwann, sollten sie es schaffen, imitieren werden und dadurch aufholen. Was wir also lernten ist, dass wir selbst hingegen die bereits Entwickelten seien. Selbstverständlich ist uns das und sollten wir bei uns Probleme entdecken, seien das daher auch keine Entwicklungsdefizite, sondern nur Randerscheinungen die trotzdem da sind und sich mit der uns eigenen (Wirtschafts-)Kraft  lösen lassen werden.

Jedoch, sehen wir ein Land, das für die allernächste Zukunft nicht gewappnet ist und bisher keine großen Fähigkeiten entwickelt, sich an die Zukunft anzupassen.

Und sehen wir ein Land, das eigentlich schon den Anforderungen der Gegenwart überhaupt nicht gerecht wird, sondern die Ressourcen der Zukunft und anderer Erdteile verbraucht, um den "Lebensstandard" der Gegenwart zu halten, um die Einsicht über die eigene Schwäche verschieben zu können.

Sehen wir so ein Land, können wir dann von einem entwickelten Land sprechen?

Tatsächlich sind wir in einer Zeit angekommen, in der die Maßstäbe für eine hohe Entwicklung, die im Industriezeitalter galten, vollkommen überholt sind und bisher kann wahrscheinlich kein Land wieder zurecht von sich sagen, zeitgemäß entwickelt zu sein. Es ist nicht die Kenntnis, die fehlt und was uns von einer zeitgemäßen Entwicklung trennt, kann uns die Wissenschaft leicht andeuten. Es sind das Versagen im Klimaschutz, der durchweg irrationale Umgang mit Ressourcen, die Unfähigkeit unseren Müll selber zu verantworten (der stattdessen in Massen exportiert wird), die anhaltende Selbstvergiftung (z.B. mit Feinstaub) und grassierende Fehlernährung mit Folgen für die Lebenserwartung.

Verinnerlicht haben wir, dass unsere Entwicklung schon erfolgreich geschehen und unser eigener Entwicklungsbedarf damit abgehakt ist, doch diese Gewissheit ist zum Irrtum geworden, ohne dass wir es bemerkt haben. Wenn wir akzeptieren, dass es keine statischen Zustände gibt und die Zeit die Dinge auch dann weiter bewegt, wenn wir nicht daran teilhaben, können wir nicht umhin, die Tatsache unserer eigenen Unterentwicklung zu akzeptieren und daran zu arbeiten, unsere neue Gegenwart unter neuen Gesichtspunkten zu bewerten und unsere Zukunft aktiv zu gestalten.

Diesen Essay sehe ich daher als eine Chance, einen neuen Blickwinkel in meine Gedankenwelt einfließen zu lassen und was Engels damals zu einer anderen, ebenfalls mit Entwicklungsproblemen kämpfende Gesellschaft zu sagen hatte, auf die unsere heutige zu beziehen. Denn gerade Ideen die nicht umgesetzt wurden, haben Chancen, ihre Aktualität zu behalten.

Zunächst möchte ich einen Überblick über einige Grundannahmen erstellen, an denen sich das Denken von Engels explizit orientiert, um seine ökonomischen Schlussfolgerungen anschließend besser abwägen zu können.

Zunächst einmal vertritt Engels ein Geschichtsverständnis, das von Gesetzmäßigkeiten und einem ausgeprägten Determinismus ausgeht. Diese Grundannahme verleitet Engels zu der (unbeabsichtigten?) Verteidigung des damaligen Status Quo als zwar schlecht, aber dennoch für eine gewisse geschichtliche Phase unvermeidbar. Auch die optimistische Prognose, dass der Sozialismus sich zwangsläufig Bahn brechen würde müssen, wenn nur die Zeit reif werde, beruht auf diesem Grundverständnis. Dass letztere Annahme, sofern von den potentiellen Akteuren einer sozialistischen Umwälzung für Wahr genommen, zu einer passiven Wartehaltung statt des für Veränderungen dieser Größenordnung unabdingbaren Aktivismus führen könnte, scheint jedoch naheliegend. Ob eine solche mögliche Auswirkung ausschlaggebend für die Qualität seines Werks ist, hängt wohl davon ab, ob man wissenschaftliche, analytische Absichten unterstellt (die normalerweise unabhängig von den Wirkungen das darstellen sollten, was der Autor für die Wahrheit hält) oder aber politisch agitatorische Absichten. Im letzteren Fall wäre ein anderer Ansatz in diesem Aspekt wohl zielführender gewesen.

Trotz der Annahme der Unvermeidbarkeit einer baldigen sozialistischen Umwälzung beschäftigte Engels sich aber auch mit Faktoren, die verlangsamend auf dieses Ereignis wirken könnten. Er nannte die Religion als ein moralisches Mittel, um das Volk in Zaum zu halten, das zunehmend aus unzufriedenen Arbeitern bestand. Darüber hinaus fielen ihm Traditionen im Allgemeinen als große hemmende Kraft ein. Traditionen seien jedoch passiv und müssten gegenüber einem aktiven Kampf für Neues daher unterliegen.

Als treibende Kraft hingegen machte Engels die erfolgte Aufklärung aus, durch die Aberglaube, Unrecht, Privilegien und Unterdrückung verdrängt werden und Sinn und Verstand handlungsbestimmend werden müssten. Da Engels auch die (materialistische) Annahme vertrat, dass das Bewusstsein aus dem Sein entsteht, ging er davon aus, dass die Proletarier gemäß ihrer Lebenssituation zu einem sozialistischen Klassenbewusstsein kommen müssten.

Desweiteren nennt Engels eine moralische Grundlage der Favorisierung des Sozialismus: Die (schon vor ihm von anderen erkannte) Tatsache, dass Gleichheit im Sinne von Gerechtigkeit zwei Aspekte beinhalten muss: Die Gleichheit der Rechte (bzw. Chancen), aber darüber hinaus auch die Gleichheit der gesellschaftlichen Lage.

Nachdem wir uns ins Bewusstsein gerufen haben, auf welchen Grundlagen Engels' Überlegungen basieren, können wir uns von seinen ökonomischen Überlegungen inspirieren lassen, um über den Aufbau unserer Gesellschaft und Wirtschaft nachzudenken. Diese sehen zwar anders aus, als diejenigen, denen Engels sich damals gegenüber sah, jedoch ist, da die von ihm prognostizierten Umwälzungen ausgeblieben sind, davon auszugehen, dass es auch noch Gemeinsamkeiten gibt, die zumindest als Anknüpfungspunkte taugen.

Um die folgende Abhandlung mit einer Grundstruktur zu versehen, eignet sich ganz hervorragend Engels' Feststellung über zwei falsche Grundannahmen der bürgerlichen Ökonomie, dass 1. die Interessen von Arbeit und Kapital identisch seien und 2. als Folge von Konkurrenz ein allgemeiner Volkswohlstand erreicht würde. Für besser verständlich halte ich jedoch eine Herangehensweise in thematisch umgekehrter Reihenfolge, da aus den um das Konkurrenzpostulat angesiedelten Überlegungen zur Funktionsweise von Produktion und Handel ein grundlegendes ökonomisches Verständnis resultiert, worauf aufbauend es einfacher sein wird, sich mit den damit einhergehenden sozialen Strukturen zu beschäftigen.


Anarchie der Produktion, Konkurrenz und fehlerhafte Kreisläufe

Die kapitalistische Produktion beschreibt Engels als anarchisch, weil es keine Regelungen gibt (z.B. bedarfsorientierte), was und wie viel produziert wird. Da es aus Sicht des jeweiligen Produzenten (bzw. des die Produktionsmittel besitzenden Kapitalisten) vorteilhaft ist, möglichst viel zu verkaufen, wird eine massenhafte Produktion angestrebt. Da es jedoch viele solcher Produzenten mit der gleichen Absicht gibt, entsteht eine zwangsweise Konkurrenz um die begrenzten Absatzmärkte, deren Kapazitäten nicht genügen, um die nach der Industrialisierung immer weiter ausweitbare Warenproduktion aufzunehmen. Dieser Konkurrenzkampf ist jedoch nicht nützlich, sondern führt im Gegenteil zu einem fehlerhaften Kreislauf mit periodisch auftretender Kollision zwischen Überproduktion und gesättigten Märkten. Diese Kollisionen machen Produktzerstörungen nötig, um den Überfluss zu reduzieren und führen zu Massenentlassungen von Arbeitern, um in der Absatzflaute Lohnkosten zu sparen und damit zur Entziehung derer Lebensgrundlage. Dass dies wiederum den Markt verkleinert, da weniger Kaufkraft vorhanden ist, zeigt in besonderer Weise wie disfunktional die anarchische Produktion unter Konkurrenzbedingungen ist. Nach irrationalen Produktzerstörungen und einer Erholung der übersättigten Märkte, setzt sich der Konkurrenzkampf alternativlos fort und führt zwangsläufig immer wieder zu den gleichen Problemen.

 

Was lernen wir aus diesen Ausführungen?

Zuerst einmal ist festzustellen, dass diese Analyse des Zusammenhangs zwischen Produktion und Markt von Engels einen wichtigen Grundsatz der herrschenden Doktrin des freien Marktes in Frage stellt: Die Unterstellung, dass Angebot und Nachfrage sich gegenseitig regeln. Und hier kommt ins Spiel, was Engels schon als Problem der Wissenschaften seiner Zeit erkannte: Die verkürzte Wahrnehmung von Einzelelementen, herausgetrennt aus dem Gesamtzusammenhang. Denn in der Tat, einzeln betrachtet erscheint die Idee, dass das Angebot durch die Nachfrage beeinflusst wird, weil die Anbieter von den Käufern abhängig sind, plausibel. Doch hier fehlt die Einbettung in einen größeren Zusammenhang, ohne den das Regelkreisszenario nicht realistisch ist. Denn es gibt in der Wirklichkeit normalerweise nicht nur einen einzigen Anbieter für ein Produkt. Gäbe es nur den einen, so würde er sicher seine Produktion senken, wenn die Nachfrage sinkt. Doch, intuitiv erst einmal paradox, aber näher betrachtet doch logisch: Wenn es mehrere Anbieter gibt, dann ist die Reaktion auf eine sinkende Nachfrage nicht die Senkung der Produktion (es sei denn es kämen für alle beteiligten verlässliche Marktabsprachen ins Spiel). Warum ist das so? Weil der Produzent bei sinkender Nachfrage hoffen kann, dass der Absatz sich bei dem Konkurrenten verringert und nicht bei ihm selbst, beziehungsweise, dass er dem Konkurrenten Marktanteile abnehmen könnte, wenn er "konkurrenzfähiger" wird. Die Reaktion auf sinkende Nachfrage ist also, dass die Preise gesenkt werden, was leichter sein kann, wenn die Produktion sogar gesteigert wird (höhere Stückzahl macht oft geringeren Preis pro Stück möglich). Zumindest aber wird sich vorerst nicht gesenkt. Bei gleicher Produktion und gesunkener Nachfrage steigt aber das Angebot anstatt sich an die Nachfrage anzupassen. Auf spontane Qualitätsverbesserungen durch akute Konkurrenz kann man jedoch eher selten hoffen, da die Preise für Käufer leichter erkennbar und vergleichbar sind und wer höhere Qualität anbietet, bei dem Wettkampf um den niedrigsten Preis nicht mithalten kann und schnell aus dem Spiel ist.

Darüber hinaus fällt auf, dass sich, im Gegensatz zu den augenscheinlich wahren Aspekten der Anarchie der Produktion und des Konkurrenzzwangs, der allzu regelmäßige Zusammenbruch der Produktion durch fehlende Absatzmöglichkeiten nicht (mehr) zu bewahrheiten scheint. Woran liegt das, wenn doch die Voraussetzungen grundsätzlich dieselben sind?

Sie sind nicht wirklich dieselben, denn es wurden Auswege aus dem engen Markt gefunden, indem der Handel immer weiter internationalisiert wurde. Natürlich ändert dies nichts an der prinzipiellen Endlichkeit des Marktes, auch weltweit. Jedoch kann die Marktsättigung auf diese Weise verzögert werden, zumal viele Märkte noch von kapitalistischen Großunternehmen unerschlossen waren. Was in dieser Hinsicht besonders interessant und ebenso problematisch ist, ist dass sich gerade bei den Methoden, mit denen die Märkte insbesondere im globalen Süden "erschlossen" werden, zeigt, wie unfähig der Kapitalismus ist, sich selbst zu tragen und dass alles darauf hinauszulaufen scheint, sich selbst länger vorzumachen, dass die Probleme, die Engels hinsichtlich der Überflussproduktion bei endlichen Märkten entdeckt hat, lösbar seien. Damit die Bevölkerungen sogenannter "Entwicklungsländer" als Markt für die multinationalen (in "Industrieländern" ansässigen) Unternehmen dienen können, werden sie mit "Entwicklungshilfegeldern" oder Krediten versorgt, um Kaufkraft herzustellen. Überspitzt gesagt  kauft man sich Kunden, damit das Geld fließt. Denn auf die Bewegung des Geldes kommt es heute an, da sein Wert sich hauptsächlich in abstrakten Zahlen und nicht in Realwert manifestiert. Problematisch ist auch, dass diese Art, sich künstlich solche Märkte zu sichern, noch lange funktionieren wird, da die Ausfüllung des Angebots mit multinationalen extrem billigen Überflussprodukten verhindert, dass sich vor Ort eigene Produktionen entwickeln können, die angesichts solch etablierter Konkurrenz keine Chance hätten preislich "wettbewerbsfähig" zu sein.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der heute globalisierte Kapitalismus seine eigenen Probleme, während er freien Handel und Regellosigkeit als alle Probleme lösende Wirtschaftsweise propagiert, leugnet und überspielt und die negativen Folgen für die Großproduzenten und ihre Heimatwirtschaften lediglich verschiebt, indem er künstlich seine Märkte durch subventionsähnliche Maßnahmen erweitert und die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten in "Entwicklungsländern" als Nebenwirkung im Keim erstickt und diese damit dauerhaft abhängig macht. Von der Abhängigkeit der Wirtschaften des globalen Nordens davon, dass sie sich dieses Spiel der unfairen Ausgangsverteilung gefallen lassen und weiter mitspielen, wird hingegen kaum geredet. Und doch kann man davon ausgehen dass dieser Zustand nicht für ewig gemacht ist, denn wie jede Veränderung kann auch Emanzipation beginnen wo die Zeit reif wird.

 

Arbeit vs. Kapital im Kapitalismus, Umwälzung zum Sozialismus

Nach Engels' Interpretation der gesellschaftlichen Struktur teilt die Gesellschaft sich in Klassen, die, ursprünglich durch Arbeitsteilung entstanden, nun die Grundlage kapitalistischer Arbeitsweise bilden. Dabei akkumulieren sich in wachsenden Ausmaßen in der Klasse der Proletarier das Elend und in der Klasse der Kapitalisten das Kapital.

Die Funktionsweise des Kapitalismus besteht darin, dass ein Kapitalbesitzer Arbeit kauft, mit der Produkte hergestellt werden und mit deren Verkauf er einen höheren Preis erzielt, als die gekaufte Arbeit ihn gekostet hat. Aufgrund seines Besitzes kann der Kapitalist also andere für seinen Profit arbeiten lassen, die dabei stets abhängig von ihm bleiben, da der Lohn nicht ausreicht, um eigenes Kapital aufzubauen.

Besonders problematisch für den Proletarier, dessen einzige Möglichkeit für den Lebensunterhalt der Verkauf seiner Arbeitskraft ist, ist die Tatsache, dass die Maschinen Menschenarbeit zunehmend überflüssig machen, bei gleichzeitig steigender Produktion. Dies bewirkt das Überangebot an Arbeitskraft gegenüber der sinkenden Bereitschaft Arbeit zu kaufen. In der Abhängigkeit der Arbeiter vom Lohn zum Bestreiten ihres Lebensunterhaltes, sind sie, unter Bedrohung durch "Arbeitslosigkeit" gezwungen, sich auf schlechte Arbeitsbedingungen einzulassen, was die kapitalistischen "Arbeitgeber" auch nutzen, da sie selbst ja, wie oben beschrieben, dem Konkurrenzkampf um Märkte und damit dem Druck, die Preise für ihre Produkte zu senken, ausgesetzt sind und zudem einen Mehrwert erwirtschaften wollen, der ihr Kapital vergrößert, um konkurrenzfähig zu bleiben. Wer als Kapitalist "seinen" Arbeitern bessere Bedingungen gewährt, als üblich, kann dies nutzen, um sein Image zu verschönern.

Da aber der Kapitalismus die große Mehrheit der Bevölkerung zu Proletariern macht, stellt er selbst die revolutionäre Macht her, die zur Umwälzung führen wird, was bedeutet, dass der Kapitalismus in sich die Veranlagung zum auf ihn folgenden Sozialismus trägt. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die den Sozialismus im Wesentlichen ausmacht, hält Engels für eine geschichtliche Notwendigkeit. Seiner Meinung nach kann kein gesellschaftlicher Fortschritt durch Erkenntnis oder Wollen entstehen, sondern immer nur durch ökonomische Bedingungen, die sich durch ihre innere Logik zwangsläufig in einer bestimmten Reihenfolge wandeln sobald der vorherige Zustand einen bestimmten Entwicklungsgrad erreicht hat. Hier ist einzuwenden, dass dies im Widerspruch zu seiner eigenen Kritik am Traditionellen steht, das durch seine Passivität unterliegen wird, denn es besagt eigentlich, dass man (passiv!) nur auf die entsprechenden ohnehin geschehenden ökonomischen und damit verbundenen gesellschaftlichen Bedingungen warten muss, anstatt gestalterisch in den Aufbau des Wirtschaftssystems einzugreifen, selbst wenn das bestehende als schlecht erkannt wurde.

Es zeigt sich dennoch eine moralische Präferenz für den Sozialismus, der dafür sorgen werde, dass die enormen Produktivkräfte, die durch die industrielle Entwicklung entstanden sind, bald allen nützen und es die sklavenartige Form der Lohnarbeit nicht mehr geben werde.

Was wir in der Zeit die nach Engels' Überlegungen verstrichen ist gelernt haben, ist, dass es keine geschichtlichen Determinismus gibt, der die Produktionsmittel in gesellschaftliche Hand übergehen lässt und den Sozialismus bringt.

Ersichtlich wird aber auch, dass Engels hier ein weiteres (neben der Überproduktion) aktuell gebliebenes Problem beschrieben hat: Die menschenverachtende Ungleichheit der gesellschaftlichen Lage. Denn die Analyse der kapitalistischen Mechanismen zeigt ganz deutlich, dass die angebliche Chancengleichheit "liberaler" Gesellschaften keineswegs zu ökonomischer Gleichheit der Gesellschaftsmitglieder führt. Denn schon kleinste Unterschiede in der Ausgangslage wirken in kapitalistischen Mechanismen selbstverstärkend: Wer hat, der kann sich nehmen (den Mehrwert der Arbeit anderer) und wer nichts hat, der muss geben (Arbeitskraft und Zeit für den Profit eines anderen).

Potenziert wird dieser Mechanismus natürlich, wenn man zusätzlich auch noch von Chancenungleichheit ausgeht. Dies wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die sogenannten liberalen Gesellschaften ihr eigenes "Recht" nur auf ihre eigenen Mitglieder anwenden, aber Nicht-Gesellschaftsmitglieder in den kapitalistischen Prozess einbeziehen, vornehmlich an unterster Stelle der kapitalistischen Hierarchie2. Dass sich die einflussreichen Teile der Weltbevölkerung mit der negativen Chancenungleichheit der unteren Schichten von unserem weit entfernter Länder arrangiert haben, die unter schlimmen Bedingungen für uns Nahrungsmittel ernten, Rohstoffe abbauen oder Kleidung nähen müssen, zeigt sich auch (und dies ist intuitiv wieder erst einmal paradox,) an den häufiger werdenden und gern gesehenen Selbstverpflichtungen multinationaler Konzerne zur Einhaltung von Umwelt-, Sozialstandards oder Menschenrechten. Wenn der Global Compact der Vereinten Nationen gelobt wird, dann zuallererst ob der großen Resonanz seitens der Unternehmen, die sich so bereitwillig zur Einhaltung der Standards bereiterklären. Gleichzeitig bleiben diese Standards freiwillig. Es geht um Standards, die wirklich Standard sein sollten, um Menschenrechte der Arbeitskräfte dieser Unternehmen. Dass die Einhaltung im Bereich der Freiwilligkeit, durch sogenannte Selbstverpflichtung bleibt, entledigt diese Menschen ihrer Menschenrechte als Rechte. Denn Rechte anderer einzuhalten kann niemals freiwillig sein, sondern sie haben einen Anspruch darauf. Eine freiwillige Basis dieser Standards zu akzeptieren bedeutet also, den wenn schon (noch) nicht durchgesetzten, so doch wenigstens international anerkannten Anspruch auf diese Rechte den Menschen zu nehmen, die außerhalb unserer Rechtsprechung von gewinnmaximierenden Unternehmen als Arbeitgeber abhängig sind und sie stattdessen deren (Un-)Gnade und Ermessen auszusetzen.

 

Welche Lösungen brauchen wir?

Eine Lösung der Problematik der Überflussproduktion kann innerhalb eines kapitalistischen Systems nach allem, was wir hier in Erfahrung bringen konnten nicht gelingen. Heute zeitigt aber die Überflussproduktion viel verheerendere Folgen als nur wirtschaftliche Zusammenbrüche. Sie führt zu immer mehr unumkehrbarer Umweltzerstörung und damit Zerstörung unserer realen (nicht in Wachstumszahlen abbildbaren) Lebensgrundlagen. Daher ist eine Lösung des Problems dringender denn je.

Nachzudenken ist daher über eine Neustrukturierung von Produktion und Handel, die besser als (erfahrungsgemäß) der Sozialismus, effiziente und effektive Arbeit anreizt, aber gleichzeitig Mechanismen enthält, die ab einem bestimmten Produktionsmaß zum Arbeitsstopp anregen. So komplex und irreal dies zuerst klingen mag, war doch jedes jemals bestehende Wirtschaftssystem komplexer als man es sich hätte ausdenken können und mit einigen guten Ideen und Versuchen, die die Erlaubnis zum Scheitern und Umlenken beinhalten, könnte ein solcher neuer Weg sicher gefunden werden.

Zu beachten ist dabei besonders, dass wir über einige unrealistische Vorurteile über die Grundlagen unserer Existenz verfügen, weil wir kapitalistisch sozialisiert sind.

Es ist nicht bezahlte Arbeit von der wir leben. Es ist nicht "Arbeitslosigkeit" die unsere Existenz bedroht, denn letztendlich leben wir von den Produkten der Arbeit der Weltgesellschaft und nicht vom Lohn oder Gehalt.

Es ist nicht monetäres Wachstum in Form abstrakter Zahlen, oder eine geringe Arbeitslosenquote, von der wir alle Leben, sondern real können wir Leben allein von 1. der insgesamt ausreichenden Produktion von lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen und 2. deren gerechter und bedarfsgerechter Verteilung an alle und 3. der Erhaltung der Grundlagen um zukünftig dasselbe zu tun. Und an diesen drei Kriterien muss sich daher die kreative Arbeit an Ideen für eine alternative Wirtschaftsordnung orientieren und nicht an Arbeitsbeschaffungslogik oder der Maximierung von Geldbewegungen.

Zum Schluss bleibt zu sagen, dass die Überlegungen zu notwendigen Problemlösungen abweichen von Engels' Überlegungen zu einer ganz anderen Zeit. Und trotzdem hat er uns im Denkprozess begleitet und uns ganz wesentliche Blickwinkel eröffnet. Es hat sich gelohnt.

 

Die Autorin

Hannah Halekotte, 27
 
 
 
 
Fußnoten:
 
1. Anführungszeichen verwende ich in diesem Text, um darauf hinzuweisen, wenn Begriffe selbstverständlich gewordene Wertungen enthalten, die uns oft nicht als solche bewusst sind.
 
2. "Hierarchie" deshalb, weil die Struktur in der Tat mehrschichtiger geworden ist. Man kann nicht mehr nur simpel von zwei Klassen sprechen, sondern es gibt arbeitende, nicht wie Proletarier ausgebeutete Schichten zwischen den beiden Gruppen der Kapitaleigner und der ausführenden Produkthersteller.
Veröffentlicht am 30.05.2020

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