Blog | Essaywettbewerb - Friedrich Engels

Martin Mader - eingereicht am 30.5.2020

Paradoxa – Ein Essay in 3 Akten

Prolog im Vorgestern

Marx bediente sich gerne der theatralen Metapher. Bei ihm ereignet sich Weltgeschichte abwechselnd in Tragödien und Komödien. So tritt der französische Revolutionär von 1789 in römisch-antiker Kostümierung auf. Er durchbricht die Herrschaft des klerikalen Adels nachdem dessen Privilegien unhaltbar geworden sind. Angesichts weitreichender Verelendung und Unterdrückung muss der König entthront werden. Es etabliert der ›dritte Stand‹, die Bourgeoisie, seine Herrschaft. Die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit werden nachhaltig institutionalisiert. Ihre Proklamation ist Ausdruck aufgeklärter Entwicklungen, die in der Rolle des bürgerlichen Revolutionärs verkörpert wird. Durch ihn ordnen sich die Verhältnisse neu – sowohl politisch als auch ökonomisch. Moderne Gesetzgebung sowie industrialisierte Wirtschaftsweise treten ihren Siegeszug an. Es ist jener historische Zeitpunkt erreicht, in welchem die Bourgeoisie »massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen hat als alle vergangenen Generationen zusammen«, wie Marx und Engels im kommunistischen Manifest festhalten. Eine Entwicklung, die die Vorherrschaft adeliger Feudalherren endgültig gebrochen zu haben scheint. Und beinahe hymnisch fahren sie fort: »welches frühere Jahrhundert ahnte, dass solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummern?«

Doch der französische Revolutionär ist eine tragische Figur; die Revolution von 1789 eine Tragödie. Wie im antiken Vorbild scheitert der Held zwangsläufig. In ihm treten widerstreitende Kräfte zu Tage, die er nicht zu überwinden vermag. Er scheitert sowohl als Reinkarnation des Spartacus sowie als Symbolfigur einer künftigen Republik römischer Bedeutung. Die Enden des sozialen Spektrums berühren sich nämlich nicht. Sie brechen vielmehr an ihrer dialektischen Sollbruchstelle wieder auseinander. Das unorganisierte Proletariat und das an die Macht gekommene Bürgertum ebnen die Neuauflage einer repressiven Herrschaft aus jeweils entgegengesetzten Richtungen. Ein Dilemma nimmt Gestalt an. Ein Dilemma, welches Engels und Marx tragisch erschien. Doch geben sie zu bedenken, dass in der sozialen Wirklichkeit nicht gegen Götter gekämpft wird. Es bedarf daher einer umwälzenden Analyse, um den Gegner beim nächsten Mal zu besiegen. Marx und Engels glaubten eine solche geliefert zu haben. In ihrem Sinne ist es entscheidend, die Bedürfnisse aller Menschen gleichermaßen zu berücksichtigen. Doch nicht in Form sozialpolitischer Almosen. Es kommt auf eine wahrhaft ausgeglichene, eine klassenlose Gesellschaft an. Ansonsten wiederholt sich Geschichte unaufhörlich und verkommt zur Farce.

Man kann sich deshalb Marx und Engels in einer ähnlichen Position vorstellen wie die Autoren in Woody Allens Film Melinda und Melinda. Sie philosophieren darüber, ob das Leben eher tragisch oder komisch ist und erzählen die Geschichte von Melinda in jeweils divergierender Form. Auf ähnliche Weise kann nun auch die Darstellung der Ereignisse von 1848 erfolgen. Nachdem nämlich rund ein halbes Jahrhundert nach der ersten Revolution soziale Spannungen erneut zunehmen, ist die Bühne für eine Neuauflage der Geschichte bereitet. Marx begleitet die Ereignisse dabei als Echtzeiterzähler und vermittelt die Gewissheit: wenn nicht wieder gescheitert werden möchte, müssen die Belange aller zu einer Umstrukturierung der Gesellschaft führen.

Doch dies ist nicht der Fall. Das herrschende Bürgertum versucht an der Macht zu bleiben und stolpert dabei auf spektakuläre Weise über eine Figur, die sich als heimlicher Gegenspieler erweist. Napoleon Bonaparte erfasst nämlich rasch die Situation und inszeniert einen Coup: Der Neffe Napoleons versammelt in ›Der Gesellschaft des 10. Dezembers‹ das sogenannte Lumpenproletariat. Er steckt es in Kostüme und suggeriert eine persönliche Leibgarde. Mit Hilfe solcherlei Tricks aus der Theaterkiste erzielt er große Wirkung. Die Bourgeoise erliegt der Inszenierung und besiegelt ihr eigenes Schicksal. Sie wählt nicht den progressiven Schritt, sondern versucht zu konservieren. Das Ende der Revolution von 1848 erweist sich als (tragische) Komödie, in welcher sich das Bürgertum selbst abschafft.

Die Beziehung zwischen marxistischer Theorie und Theater lässt sich aber nicht auf geschichtsphilosophische Darstellungen reduzieren. Sie ist wesentlich vielfältiger und durchdringt noch die ökonomischen Analysen ihres Hauptwerks. Der Philosoph Peter Sloterdijk meint, man müsse Das Kapital eigentlich parallel zu Ovids Metamorphosen lesen, um seine volle Tragweite zu erfassen. Denn in der marx'schen Monumentalschrift werden Mechanismen beschrieben, deren Effekte letztlich alle kulturellen Phänomene prägen. Und diese Effekte sind wiederum mit dem Theater wesensverwand.

Das Kapital verfügt nämlich über die Eigenschaft, Dinge hervorzubringen und zu verwandeln. Wie der Schauspieler steht es stellvertretend für gesellschaftliche Vorgänge, ohne mit diesen ident zu sein. Dabei ist es unheimlich flexibel und kann jegliche Gestalt annehmen. Das Kapital wie das Theater prägen also ihre Gegenstände buchstäblich, obwohl sie genau betrachtet Abglanz sind. Im gegenwärtigen Theoriejargon würde man von ›Performativität‹ sprechen. Die Kunst wie das Kapital stellen Wirklichkeit her. Diese Wirklichkeit wird aber aus dem Nichts geboren. Sie ist ihrem Wesen nach schöner Schein. Sie beruht auf gesellschaftlicher Konvention. Jeder weiß, dass die Vorgänge auf der Bühne nicht authentisch sind. Aber der ›Als-ob-Charakter‹ wird akzeptiert, bisweilen sogar vergessen. Analoges zeichnet Marx in seiner Wertanalyse nach. Der Geldwert einer Ware ist ein abstraktes Etwas, das sich aus einem gesellschaftlichen Verhältnis generiert. Doch der Wert wirkt fortan entscheidend, obwohl die Arbeitsprodukte »erst innerhalb ihres Austauschs eine von ihrer sinnlichen Gebrauchsgegenständlichkeit getrennte, gesellschaftlich gleiche Wertgegenständlichkeit erhalten«, wie Marx festhält. Für ihn liegt der Grund jenes ›Fetischcharakters der Ware‹ darin begründet, dass wir ob ihres performativen Charakter vergessen. Die Gesellschaft erliegt ihrem selbstproduzierten Schein. Es ist angenehmer, sich einer Erzählung hinzugeben als sich mit deren Mechanismen zu beschäftigen. Ein Umstand, der nicht zuletzt Bertolt Brechts Theaterschaffen bestimmen sollte. Das berühmt gewordene Spruchband »Glotzt nicht so romantisch« im Bühnenbild von Trommeln der Nacht ist vor diesem Hintergrund zu verstehen.

Woher genau rührt aber nun eigentlich das Naheverhältnis zwischen Theater und den Konzepten von Marx und Engels? Es ist sicherlich nicht auf Einzelaspekte beschränkt. Es entspringt vielmehr gemeinsamen Grundzügen. Grundzügen, die sich einem bestimmten Verhältnis zum Paradox verdanken. Dem Theater und der materialistischen Philosophie ist der unauflösliche Widerstreit wesentlich eingeschrieben. Sie nehmen sich seit je her unversöhnlichen Konstellationen an. Die Welt ist einfach zu vielfältig. In ihr geraten die Dinge durcheinander. Stets bleibt ein Rest, eine Differenz. Und jener Restbetrag ist für die Kunst entscheidend. Sie stellt nicht nur Konflikte dar, sie muss sie aufgrund ihres Darstellungscharakters nicht auflösen. Im Gegenteil: das Dunkle, der Abgrund zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen, ist geradezu ihr Metier. Sie behält sich Interpretationsspielraum. Kunst verschreibt sich »dunkel spielender Kräfte«, wie Christoph Menke es ausdrückt. Sie sucht das Paradoxe auf und stilisiert es zum ästhetischen Erlebnis.

Wie die Künstler widmen sich auch Engels und Marx der widersprüchlichen Wirklichkeitserfahrung. Sie bedienen sich dabei aber einer philosophischen Tradition, die durch den Widerspruch geradezu hindurchführen möchte. Die Rede ist von der Dialektik Hegels. Im Zentrum jenes Denkens steht das Subjekt. Es findet sich einer objekthaften Welt gegenüber und ist dazu gezwungen, diese mit Begrifflichkeiten zu fassen. Das Problem dabei ist aber, dass seine Vernunft nicht mit der gegenständlichen Welt übereinstimmt. Das Besondere des subjektiven Geistes deckt sich nicht mit dem objektiven Allgemeinen. Vielmehr findet eine seltsame Entzweiung statt: Subjektive Perspektiven sind unumwunden notwendig und müssen allgemeinen Charakter beanspruchen. Gleichzeitig wird dieser Versuch aber stets vom nicht zu erfassenden Allgemeinen zurückgeworfen. Der Geist trifft auf Widerstand. Das Subjekt ist unendlich dazu verdammt, Identität im Nichtidentischen aufzusuchen.

Den Dialektiker zeichnet nun aber aus, dass er diesen Umstand nicht zum Anlass nimmt, Wahrheitsansprüche zu relativieren. Er begnügt sich nicht, Grenzen des Verstandes, seine Differenz, zu akzeptieren und daraus die Konsequenzen zu ziehen. Ihm ist der Versuch eigen, das Besondere und das Allgemeine miteinander durch alle Widrigkeit hindurch versöhnen zu wollen. Und die Motivation schöpft er dabei aus den Möglichkeiten der Vernunft selbst. Denn wer die Grenzen des Geistes bereits erkannt hat, so führt etwa Adorno aus, hat das Überschreiten zugleich auch schon mitgedacht. Das Subjektive muss also an etwas Allgemeinem partizipieren, um seine Einschränkung überhaupt formulieren zu können. In diesem Sinne gilt es, sich solange dem Widerspruch auszusetzen, bis er vermittelt werden kann. Eine erste, allgemeine Wahrheit wird zugunsten einer Wahrheit ersetzt, die sich in der Zukunft einstellen wird. An dieser erst zu erreichenden Wahrheit nimmt man aber bereits von Anfang an Teil. Sie ist gewissermaßen in jedem temporären Abschnitt enthalten und muss mittels fundierter Kritik freigelegt werden. Somit lässt sich festhalten, dass es die Dialektik als ihre paradoxe Aufgabe bergreift, das Allgemeine durch Kritik aufzusuchen; im Wissen, dass es Teil eines umfassenderen, vielleicht niemals abzuschließenden Prozesses ist.

Es wundert demnach nicht, dass gerade Theater und dialektische Philosophie in einem reichhaltigen Spannungsverhältnis zueinanderstehen. Nicht nur, dass ihnen der Widerspruch gemein ist. Ihr Umgang mit Widersprüchlichem ähnelt sich. Beide versuchen ihm gerecht zu werden. Doch ihre Ausführungen funktionieren unter anderen Vorzeichen. In gewisser Weise spiegeln sie sich sogar. Und für alle Reflexionen gilt: das Spiegelbild ist nicht mit der gespiegelten Person ident. Es klafft eine Lücke. Doch ohne Abstand wäre auch kein Widerschein möglich. Aufgrund der Nicht-Identität eröffnet sich erst die Möglichkeit der Selbstbetrachtung. Man kann Aspekte an sich selbst erkennen, die sich ohne das gespiegelte Gegenüber nicht eröffnet hätten. Oder dialektisch formuliert: anhand des Verhältnisses von dialektischem Denken und Theater zum Paradox lässt sich die Bedeutung von Marx und Engels für das Gestern, das Heute und Morgen vermitteln.

 

1. Akt im Gestern

Zwischen Dichtern und Philosophen schwelt seit jeher ein Streit. Sie buhlen gewissermaßen um die Vorherrschaft in Geistesfragen. In der Antike nehmen Künstler, respektive die Dichter, besonderen Stellenwert ein. Sie gelten als Sprachrohr der Götter. Sie stellen deren Kosmos dar und geben auf diese Weise Orientierung.

Die Philosophen hingegen agieren reflektierend. Ihre Quelle ist nicht die (göttliche) Inspiration, sondern das eigene Staunen über die Welt. Sie wollen Antworten erarbeiten, die aus irdischen, das heißt: aus nachvollziehbaren Anstrengungen stammen. Von hier aus nimmt die Wissenschaft ihren Anfang. Das Vermögen des Logos (λόγος) wird entfaltet. Mittels Vernunft werden Natur und Gesellschaft in Augenschein genommen. Und so kommt etwa Platon zu der Erkenntnis, dass aus dem idealen Staat der Künstler eigentlich verjagt werden müsse. Er wird von ihm als Querulant wahrgenommen. Der Künstler stelle Artefakte her, die nichts über die Welt aussagen. Seine Darstellungen verlieren sich im Ungefähren. Der Dichter weiß im Grunde nichts. Er bedient ausschließlich das Wohl- oder Missfallen des Publikums. Er provoziert Affekte. Doch Affekte sind dem Denken nicht dienlich, sie untergraben es. Grund genug, um die gesellschaftliche Relevanz in Frage zu stellen.

Umgekehrt kann der Dichter über solcherlei Anschuldigungen nur milde lächeln. Für ihn ist der Philosoph das Paradebeispiel einer tragischen Figur. Er verwechselt Wissen mit verallgemeinerten Urteilen ohne Substanz. Er muss zwangsläufig daran scheitern. Wer nämlich nicht erkennt, dass unter gewissen Umständen die Emotion über den Verstand siegt, dem ist es um die widersprüchliche Verfassung der Welt nicht ernst genug. Lieber werden missliebige, der Vernunft sich entziehende, Phänomene verbannt. Darin schlummert bereits Totalitarismus. Das Denken erstarrt hier zu einem System. Das Paradoxe kommt nicht zur Darstellung. Und obwohl sich der Konflikt in dieser Schärfe über die Jahrhunderte gewandelt und abgeschwächt hat, bleibt er in nuce bis heute relevant. Er wirft sogar Erhellendes auf die Arbeit von Marx und Engels.

Denn es liegt tatsächlich nahe, die beiden ihrerseits als tragische Figuren des Weltgeschehens zu deuten: Zwei Protagonisten agieren in einer gesellschaftlichen Konfliktsituation. Analog zu Hamlet müssen sie feststellen, dass ihre Zeit aus den Fugen geraten ist. Doch ist es nicht der Onkel, der den Vater tötet und damit Unglück heraufbeschwört. Der Herrscher selbst, das Bürgertum, ist nicht in der Lage seine Versprechen einzulösen. Das System gelangt an Grenzen und produziert um der Selbsterhaltung Willen Ungerechtigkeit am Fließband. Es bedarf also der Aktion. Im Gegensatz zu Hamlet sind die Philosophen aber (scheinbar) nicht von Hass und Rachsucht getrieben. Ihnen stehen geistige Waffen zur Verfügung. Mit Hilfe hegelianischer Theorie gelingt es, die zentralen Schwachstellen des Gegners aufzuspüren. Methodisch fundierte Kritik ist das Gebot der Stunde. Die Beschreibung der Widersprüche und ihre Auflösung hin zu einem anerkannten Allgemeinen erscheint geradezu prädestiniert. Denn solcherlei Einsichten verfügen über nichts Geringeres als Überzeugungskraft. Dies sollte dazu führen, dass Menschen sich selbst in ihren Widersprüchen erkennen.

Doch Marx und Engels begnügen sich nicht mit ideeller dialektischer Analyse. Aus ihren kritischen Betrachtungen erkennen sie vielmehr, dass es nicht genug ist, die Welt geistig (irgendwann) zu durchdringen. Die kritische Reformierung des Bestehenden verzögere lediglich die notwendige Entwicklung. Denn im Unterschied zu Hegel, glauben Marx und Engels nun, die zukünftige Wahrheit bereits beschreiben zu können. Hierfür stellen sie die Dialektik vom Kopf auf die Füße und begründen ihre materialistische Form. Nicht der geistige Widerstreit um die Diskrepanz zwischen Begriff und Welt ist dabei entscheidend. Die Wahrheit liegt bereits in der gegenständlichen Welt vor. Es gilt deshalb nicht die Welt begrifflich zu entwickeln, sondern umgekehrt, die augenscheinliche Beschaffenheit der materiellen Dinge (begrifflich) zu organisieren.
Denn der eigentliche Antagonismus wird von der Welt seit je her auf den Körper ausgeübt. Die Welt zwingt uns zum Widerstreit, sie zwingt uns zur Arbeit. Ohne aktives Tun, das unser Sein bestimmt, könnten wir nicht existieren. Es gilt demnach den materiellen Aspekt als Primat des Lebens anzuerkennen. Wenn wir diesen als wahrhaft handlungsleitend begreifen, gibt es die Versöhnung zwischen den Einzelnen und dem Allgemeinen. Somit wird eine abstrakte philosophische Idee endlich konkret. Das Gespenst namens Kommunismus ist geboren. Es treibt sein Un-Wesen in Europa, wie die Autoren selbst im Manifest anheben. Ein Gespenst, das die Welt grundlegend verändern soll und als Antwort auf die Antagonismen moderner Gesellschaften verstanden wird. Ein Gespenst, das die Köpfe der Menschen bewandert und die Herrschenden heimsucht. Jener Geist soll die Welt zu einer besseren, zu einer vollendeten Welt aus Freien und vor allem Gleichen machen. Doch das Gespenst tritt im weiteren Verlauf der Geschichte als hamlet'scher Fiebertraum auf. Marx und Engels sterben zwar nicht unmittelbar an seinem Gift, doch in ihrem Namen lassen unzählige Menschen ihr Leben. Ihr Vorhaben schlägt ins Gegenteil. Anstatt freier Vollendung steht Elend und Totalitarismus. Weder die revolutionäre Aktion glückt noch die zwangsläufig prognostizierte Entwicklung tritt ein. Hätten Marx und Engels die Nachwirkungen ihres Schaffens erlebt, erginge es ihnen womöglich wie Agaue, der Mutter des Herrschers Pentheus. Nachdem der dionysische Rausch abgeklungen war, müssen sie erkennen, dass sie ihren Kindern den Kopf abgerissen haben. Und obwohl viele Interpretationen ob der Gründe dieses Verlaufs existieren, wartet der Künstler mit einer tiefschürfenden Erklärung auf: Er kann nämlich glaubhaft machen, dass es am scheinhaften Wahrheitssubstrat der Philosophen lag. Sie verkannten zugunsten ihrer Erkenntnisse den eigenen Abgrund. In den Tiefen ihrer Philosophie schlummert der totalitäre Moment. Er gab sich am konkret benannten Allgemeinen am Horizont der Geschichte zu erkennen. Sie opferten ihm letztlich das, was die Welt zuvorderst auszeichnet: das Paradox.

 

2. Akt im Heute

Anhand der Arbeiten von Engels und Marx kann diese Deutung nur schwer widerlegt werden. Denn nicht nur ihre Entwürfe, sondern das aufgeklärte Denken insgesamt gerät in Fundamentalkritik und fährt fortan in aufgefächerten Fahrwassern.

Ob der Künstler dies bereits antizipiert oder sogar stets besser gewusst haben soll, sei dahingestellt. Doch setzt sich die Kunst spätestens nach Marx und Engels auffallend von ihrer Partizipation an gesellschaftlichen Ideen ab. Sie wird selbstreferentiell und widmet sich primär der ästhetischen Erfahrung. Der Wirklichkeit wird noch fundamentaler misstraut. Selbst die Sprache zerfällt als modriger Pilze im Mund, wie Hofmannsthal zu berichten weiß. Die Erfahrung, dass nichts über Tatsachen hinaus erkannt und widergegeben werden kann, bestimmt die künstlerische Szenerie und findet schließlich auch prominenten philosophischen Widerhall.

Friedrich Nietzsche stützt sich etwa in seiner Arbeit auf jene genuin ästhetische Erfahrung. Das vernünftige Gebilde der Wahrheit ist ihm suspekt, die Aufklärung wie die Dialektik ein Korsett. Und spätestens nach der Erfahrung zweier Weltkriege ist evident, dass Politik wie Philosophie mit umfassenden Wahrheitsanspruch nicht mehr vertreten werden kann. Die großen Entwürfe erweisen sich als Erzählungen. Sie sind wie die Epen Homers arte-faktisch und die Zeit der großen Erzählungen ist vorbei, wie Jean-François Lyotard zusammenfasst. Die Moderne wird von ihm ad acta gelegt und die Zeit der Postmoderne ausgerufen. Der Mensch ist nicht Teil eines umfassenden Allgemeinen. Er ist das Produkt von Sprachspielen und Machteffekten. Es gibt folglich auch keine kontinuierliche Entwicklung, die die Vielfalt der Welt unter verallgemeinerbare Erkenntnis fassen könnte. Das postmoderne Credo lautet daher: ›anything goes‹. Der Widerspruch, dass wir zwar Wahrheit voraussetzen müssen ohne ihr sicher zu sein, führt zu der Situation, dass nun alles irgendwie funktioniert, solange es genug Follower findet.

Aus dieser Konstellation kristallisieren sich wiederum zwei Strömungen, die charakteristisch für die Paradoxa unserer Tage sind. Auf der einen Seite kapert das naturwissenschaftliche-positivistische Denken das Vernunfterbe der Aufklärung. In Geistesfragen verhält es sich relativistisch. Wahrheit gibt es nicht, sondern ausschließlich ideologiebefreite Tatsachen. Man benötigt deshalb auch keine Theoriebildung mehr; Quantifizierung ersetzt sie. Wir bewegen uns endlich auf sicherem Boden. Mit Big-Data ist man in der Lage, übergreifende Kausalität durch berechnete Relation zu ersetzen. Es muss niemanden verwundern, dass dies mit neoliberaler Weltanschauung besonders gut korrespondiert. Es wird keine Mühe mehr darauf verschwendet, das Allgemeine erkennen zu wollen. Wenn es überhaupt noch etwas Allgemeines gibt, dann ist es diffus: Es besteht aus Minimaltoleranz gegenüber gesellschaftlicher Diversität und der daraus generierten Nachfrage. Ideologische Einflussnahme kann damit geleugnet werden. Fakten und relativistische Weltanschauungen gelten als besonders neutral und unverdächtig. Wie problematisch diese Mixtur aber werden kann, zeigt sich dann, wenn große Entwicklungen auf das Politische treffen. Die besonders naturwissenschaftsaffinen Transhumanisten schwören etwa auf die unbedingte (gen-)technische Entwicklung und hoffen gar auf die Vervollständigung der Menschheit durch ihre sequentielle Überwindung. Jener Fortschritt gilt ihnen als Ultima Ratio; ganz so als hätte es die technisch-rationalisierte Schreckenserfahrung des 2. Weltkrieges nicht gegeben.

Dem gegenüber steht ein Denken, das sich aus den Resten theoriegeleiteter Aufklärung speist. Aus ihren Fragmenten entstehen vordergründig vernunftkritische Modelle postmoderner Prägung. Ähnlich ihres positivistischen Gegenübers geben sie sich streng anti-ontologisch. Erste oder zukünftige Wahrheit ist ihnen zuwider. Vernunft wird nicht als Garant allgemeiner Erkenntnis identifiziert, sondern als Machtapparat. Hinter gesellschaftlichen Phänomenen, wie etwa wissenschaftlichen Erzeugnissen, werden Machtstrukturen vermutet. Jürgen Habermas kritisiert daher zurecht, dass wir es mit einer heimlichen ›Quasiontologie‹ zu tun haben. Das Schlagwort ›Macht‹ wird hierfür verallgemeinert, um Allgemeines zu entkräften. Dies führt dazu, dass große Themen wie ›Kapitalismus‹, ›Wissenschaft‹ oder ›Identität‹ auf eben jene Dimension reduziert werden. Dabei geraten auch marxistische Begriffe wie jener der ›Klasse‹ in Verruf. Überall stehen ›Macht‹ und/oder das ›kapitalistische System‹ im Hintergrund. Jegliche Kategorie erscheint verdächtig. Wir befinden uns daher in einem selbstwidersprüchlichen Patt: Den entweder ist alles ›Macht‹, was die Aussage selbst miteinschließen und relativieren würde. Oder es gibt Bereiche, die außerhalb der Macht stehen und somit das ›Wahre‹ oder das ›Eigentliche‹ wären – was aber wiederum benannt und erst recht zu einer Form der allgemeinen Wahrheit führen müsste.

Was also tun?, um mit Lenin zu fragen. Und was macht eigentlich der Künstler?

 

3. Akt im Morgen

Der Theatermacher Milo Rau veröffentlicht 2013 ein Essay, das ebenfalls an Lenin anklingt. Sein Titel lautet: Was tun? Kritik der postmodernen Vernunft. Darin prangert der Regisseur an, postmoderne Kritik nehme nicht mehr die wirklichen Probleme wahr. Sie ist nur daran interessiert, ihren Diskurs aufrecht zu erhalten und ihren Modellen die Wirklichkeit unterzuordnen. Der Künstler erkennt, dass die Gegenwart ihrerseits Paradoxa hervortreibt, die sie nicht überwinden kann. Doch Milo Rau fällt gewissermaßen in die eigens ausgehobene Grube. Er zeichnet zwar mit viel Witz und Verve linksgerichtete Charaktere nach und schafft es Begeisterung für einen ›radikalen Ansatz‹ zu entfachen; ein Ansatz, der es ›tatsächlich ernst meint‹. Das philosophische Substrat hinter der Darstellung bleibt aber dünn. Rau verfällt dem durchaus postmodernen Verdikt, alles auf ›den Kapitalismus‹ zurückzuführen und findet aufmunternde Worte, ›das System‹ doch endlich hinter sich zu lassen. Damit ist freilich nichts gewonnen. Ja, es muss sogar die Evidenz seiner Aussagen bezweifelt werden. Allerdings sollte die Stoßrichtung von Rau Beachtung finden. Sie erinnert daran, dass es anderer Deutungs- und Kritikmodelle bedarf. Hierfür muss aber nicht Lenin und eine Widerkehr der Utopie beschworen werden. (Utopien als verallgemeinerte Wahrheit sollte den Künstler eigentlich in Alarmbereitschaft versetzen). Es lohnt sich jedoch, etwas weiter zurück zu gehen und sich den theoretischen Wurzeln von Engels und Marx zu widmen. Denn analog zur Arbeit eines Regisseurs gilt es, die zeitgenössische Bedeutung klassischer Werke freizulegen. Und das Vermächtnis von Marx und Engel ruht in ihrem theoretischen Ansatz – der Dialektik in ihrer anfänglichen, ihrer idealistischen Form.

Die Dialektik erscheint nämlich geradezu prädestiniert, um den Herausforderungen der Zukunft gerecht zu werden. Immerhin stellt sie »die Paradoxie der Identität in der Nichtidentität« (Adorno) ins Zentrum. Diese Methode der dialektischen Kritik ist sicherlich komplex und »eine Zumutung« (Adorno). Immerhin wagt sie gewissermaßen die Quadratur des Kreises. Doch es bedarf des Versuchs, ein kritisches Denken zu gestalten, welches sich zugleich gegen Letztbegründung und Relativismus wendet, ohne dabei einem ›anything goes‹ zu verfallen.

Das Morgen verlangt nach Kritik mit allgemeinem Anspruch, ohne bereits zu wissen wie dieses Morgen aussehen wird. Vielmehr gilt es, sich an dieses Allgemeine anhand der widersprüchlichen Wirklichkeit heranzutasten; Ja, die Bewegung der Kritik als Wahrheit anzuerkennen. Denn erst dadurch, wie Adorno schreibt, »dass wir die kritische Bewegung für die Wahrheit halten, ist es überhaupt möglich, dass wir zur Wahrheit gelangen. Auf der anderen Seite bedeutet das, dass der nächste Schritt sich ganz ernst nehmen muss und sich nicht selber schon relativieren kann, indem er sich wiederum als Teilmoment des Ganzen sieht. Sondern dass er selbst wieder in dieser ihm notwendigen Selbstverkennung zur Unwahrheit wird und dadurch über sich weitertreibt.« Daraus folgt also, dass die grundlegende Paradoxie des Daseins, ihre je historischen Formen zeitigt. Diese gilt es zu erkennen und mit aller Ernsthafthaftigkeit in Richtung einer allgemeinen Auflösung zu vermitteln. Dabei sollte allerdings stets beachtet werden, dass die Auflösung selbst wiederum dem Paradox, oder dem absoluten Widerspruch (Adorno), anheimfallen wird. Das sollte allerdings in der konkreten Situation nicht entmutigen. Hätten beispielsweise die französischen Revolutionäre von 1789 die bürgerliche Gesellschaft nicht in aller Ernsthaftigkeit für die Verwirklichung einer gerechten Welt gehalten, die Revolution wäre gescheitert noch bevor sie beginnt. Ihre Widersprüche traten (notwendigerweise) erst im weiteren Verlauf zu Tage. Entscheidend ist es daher, jene paradoxe Einschränkung als Teil einer wahren Bewegung zu erkennen. Die Wahrheit liegt nämlich nicht nur in der Zukunft, sie liegt zugleich als temporär vollendeter Prozess in der Praxis selbst vor. Und wir können diesen Prozess nur aus der gegenwärtigen Situation heraus vorantreiben. Das Glühen der Wahrheit am Ende des Tunnels wirft Licht auf die je konkreten Zeitabschnitte. Oder wie Hegel es ausdrückte: der Wahrheit liegt ihr Zeitkern inne.

Die Herausforderung besteht deshalb auch darin, aus den Fehlern von Engels und Marx zu lernen. Man sollte sich hüten, ein feststehendes Allgemeines aus der Kritik abzuleiten, »weil genau an dieser Stelle eigentlich der Ansatz für die Erstarrung der materialistischen Dialektik zu einer Staatsreligion und zu einem Dogma liegt.« In der Praxis bedeutet dies, dass die drängenden Antagonismen unserer Zeit nicht nur erkannt und allgemein vorausgesetzt werden müssen. Die drängenden Widersprüche sozialer und ökologischer Natur verlangen die beständige Bereitschaft, sich der komplexen Wirklichkeit auszusetzen und gegebenenfalls von inhärenten Prämissen abzuweichen. Dieser Vorgang ist sicherlich kleinteilig, mühsam und ungewiss. Er lässt sich nur schwer in knackige Slogans packen und verlangt, dass sowohl die wissenschaftliche als auch polit-ökonomische Realität anerkannt und ernstgenommen werden. Wer sich aber anschickt, die kaum zu überblickende Gegenwart für ein Morgen zu vermitteln, wird um möglichst umfassende wie kritische Rekonstruktion nicht umhinkommen – auch wenn am Ende keine Utopie stehen mag, sondern ein endlicher Entwurf. Und falls sich doch wieder ein anschlussfähiges Allgemeines am Horizont der Geschichte abzeichnen sollte, liegt es auch an Künstler*innen, auf den Abgrund solcher Visionen zu verweisen und vor erneuter Erstarrung zu warnen. Ihnen muss nämlich das Paradox heilig bleiben. Ohne grundsätzlichem Widerspruch, droht erneuter Totalitarismus. Oder frei nach Brecht: Freiheit beruht darauf, dass es immer auch anders sein könnte. Diese Paradoxie gilt es hochzuhalten.

 

 

Der Autor

Martin Mader (*1987 in Innsbruck), arbeitet als Dramaturg (Landestheater Linz), Autor und Regisseur. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Philosophie und Angewandte Theaterwissenschaften in Gießen und Innsbruck. Zuletzt Uraufführung seines Stückes Raststätte. am taT des Stadttheater Gießen. Nähere Informationen auf www.martinmader.com

Demnächst: Orlando im Rahmen des Theatersommers Ludwigsburg.

Veröffentlicht am 30.05.2020

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