Blog | Essaywettbewerb - Friedrich Engels

Valeria Furin - eingereicht am 29.5.2020

Ein Start-Up namens Kommunismus


Berlin. Eine Küche, in der sich drei Personen befinden. Auf dem Esstisch flackern Kerzen, bauchige Gläser wurden für die Rotweintrinkenden bereitgestellt. Die Atmosphäre ist entspannt, das Essen gut; leiser, angenehmer Jazz untermalt die warme Szenerie.

V: „Ich erinnere mich als ich in meiner ersten Ökonomie Vorlesung gehört habe, dass Geld nur ein Tauschmittel ist und somit nur dem Wert entspricht, den das einzutauschende Produkt hat. Mit 20 Jahren höre ich also zum ersten Mal, dass Geld an sich wertlos und nur bedrucktes Papier ist. Dabei war Geld für mich das, was immer fehlte und das, was ich immer angestrebt habe anzuhäufen.
Danke, Karl."
N: „Karl?"
V: „Marx."

Es ist Mitte Mai im Jahr 2020 als dieser Austausch stattfindet. Anfang des Jahres brach eine Pandemie aus, ein Virus lässt Menschen auf der ganzen Welt sterben. Die Ökonomie leidet unter der schwindenden Kaufkraft, die durch weltweite Quarantänen hervorgerufen wird. Eine Inflation zeichnet sich ab.

N: „Während der Quarantäne hatte ich noch mehr Zeit meine Start-Up Idee auszubauen – die Inflation hat das Musikbusiness hart getroffen. Genau jetzt will ich meine Idee weiter ausbauen. Die Plattform, die ich baue, wird für eine gerechtere Entlohnung für Musikanten sorgen. Ich bin so froh, etwas gutes für die Welt zu tun, Menschen zu helfen; ich fühle mich so frei, so brauchbar. Meine eigene Idee, mein Baby. Dumm nur, dass ich mir trotzdem dauernd über meine Miete Gedanken machen muss."

Die Pandemie und die Restriktionen führen die jungen Berliner in eine ihnen unbekannte Situation: sie können nicht frei entscheiden wohin sie gehen und mit wem sie sich treffen. Sie befinden sich plötzlich in einem anderen Leben: abgeschnitten von der physischen Außenwelt, die Bewegungsfreiheit deutlich eingeschränkt, das Arbeiten auf Zuhause verlegt. Der Begriff und das Gefühl von Freiheit wurden zum ersten Mal in ihrem Leben berührt und steht zentriert in ihrem Bewusstsein.

W: „Und das ist das schlimme: es ist doch so, dass man als Arbeitnehmer nicht wirklich frei ist. Man DENKT man sei frei, man braucht jedoch immer Geld zum Überleben. Und dieses Geld bekommt man nicht für die Arbeit, die man leistet; man bekommt es für die Zeit, die man aufbringt, um diese Arbeit zu leisten. Du verkaufst also deine Zeit, wenn du Arbeitnehmer bist. Deine Lebenszeit; dein Leben, wenn du es genau haben willst. Wie kannst du also frei sein, solange du für jemanden arbeitest?
‚Das Kapital' von Karl Marx erklärt unsere Welt."

V: „Genau! Das ist das Wichtigste was ich gelernt habe, als ich für ein großes Handelsunternehmen gearbeitet habe: ich verkaufe meine Zeit. Das ist das einzige Produkt, das ich meinem Arbeitgeber bieten kann, solange ich kein anderes Produkt erzeugt habe. Wieviel Geld ich dabei verdiene ist unerheblich; denn nichts macht mich frei, solange ich dafür meine Zeit verkaufen muss. Denn meine Zeit ist begrenzt und daher so kostbar.
Warte mal, Karl Marx wird doch immer zusammen mit Friedrich Engels erwähnt, oder? Schließlich kam der eine vom anderen auf seine Ideen und umgekehrt."

W: „Ja, aber ich finde Karl Marx ist der wichtigere der beiden. Schließlich hat er ‚Das Kapital' geschrieben."

Über die drei Anwesenden ist eines zu bemerken: einer von ihnen (W) hat die 90er aktiv als Jugendlicher in der Sowjetunion miterlebt und nicht als deutsches Baby. Dieser junge Mann nennt seinen besten Freund Karl Marx. Er redet viel und gerne über ihn, kennt eine Antwort auf jede ökonomisch-philosophische Frage und bezieht sich stets auf die zwei Giganten Marx und Hegel.

V: „Moment mal, sie haben ‚Das Kapital' zusammen geschrieben! Einen Teil der Revisionen musste Engels sogar allein machen, da Marx vor ihm gestorben ist. Deswegen kannst du nicht einfach behaupten, dass Marx wichtiger wäre. Ohne Engels gäbe es keinen Marx, ohne beide zusammen gäbe es die Gründung des Sozialismus nicht. Ohne Engels wäre Marx verhungert."

Menschen, die es bevorzugen, im Schatten zu bleiben, wird man oft nicht gerecht. Genauso wie Ideen, die vom Mitstreiter aufgegriffen und als genial gefeiert werden. Friedrich Engels nahm gerne die Position des einflussreichen Freundes ein. Er selbst schrieb lange bevor er Marx kannte gesellschaftskritische Essays und Studien. Doch erst in Symbiose mit Marx' Verstand und Scharfsinn, konnten die Gedanken einer Klassen-freien Gesellschaft Halt finden und einen tatsächlichen Umschwung anzetteln.

Daher ist es wichtig Engels' Position zu beleuchten: Sohn eines Fabrikanten Vaters, der damit aktiv zur Entstehung des Proletariats beitrug, indem er von ihr profitierte. Engels Verachtung brachte er als rebellierender Atheist zum Ausdruck.

Welch Ironie: Um gegen die Klassengesellschaft anzukämpfen bediente er sich der Vorteile der obersten Klasse, der Bourgeoisie. Doch Engels litt unter dieser Dualität; sein Herz hing an der Progression der Menschheit, dem Vorantreiben des Kommunismus und an seiner Liebe zu den mittellosen Schwestern Mary und Lilly Burns. Gleichzeitig musste er sich dem Willen des Vaters beugen, um wichtige finanzielle Mittel nicht zu verlieren, und somit seine Lebensgrundlage, wie auch die Einblicke, die er in die Kreise der Bourgeoisie allein durch den Stand seiner Familie gewann, nicht zu verlieren.

W: „Ich weiß, dass die bedeutendsten Schriften und Bücher von beiden zusammen geschrieben wurden. Natürlich ist das nicht unerheblich. Mein Punkt dabei ist, dass wir nur auf den Schultern von Giganten stehen. Wieso ist unsere Gesellschaft heute so weit entwickelt? Wegen den beiden. Wieso hat Lenin in Russland den Kommunismus vorangetrieben? Wegen den beiden.
Wegen beiden können wir bessere Entscheidungen treffen. Wir sind gebildet und haben die Möglichkeit durch die Muster der Gesellschaft zu sehen. Das fängt an mit deiner Ökonomie Vorlesung, in der du lernst, was Kapitalismus ist und wieso dieses System die Welt regiert. Es geht über die Entscheidung weniger oder zumindest bewusster zu konsumieren. Bis hin zur Möglichkeit einer neuen Gesellschaftsform."

Bildung bedeutet immer auch, bessere Entscheidungen treffen zu können.

In der Berliner Wohnung, wo dieses Gespräch stattfindet, haben alle drei Anwesenden verschiedene akademische und soziale Hintergründe. Was alle verbindet, ist das Bewusstsein einer nicht vorhandenen Gerechtigkeit auf der Welt – was die diesjährige Pandemie bestärkt.

W: „Als Arbeitnehmer hast du selten die Möglichkeit, wirklich Geld anzusparen. Laut Engels Gedankengut ist somit jeder Arbeitnehmer jeder Krise völlig schutzlos ausgeliefert. Nehmen wir die USA im Moment: wie viele Menschen leben dort von der Hand in den Mund? Die Wirtschaft kollabiert gerade und sie merken wie sehr sie darauf angewiesen sind, dass alles immer so weiter läuft wie bisher, da sie sonst alles verlieren. Dort gibt es kein soziales Netz wie hier. Keiner fängt sie auf. Wenn man es genau betrachtet sind sie einfach Sklaven der heutigen Zeit."

N: „Ach komm, du willst mir doch nicht weißmachen, dass Sklaverei immer noch existiert? Sieh doch, wie viele Menschen heute in den ganzen Büros arbeiten, Menschen mit Investitionsplänen, subventioniert von den Firmen, in denen sie arbeiten. Soziale Missstände sind selten in unserer Gesellschaft."

W: „Moderne Sklaverei. Sklaverei bedeutet, dass du nur für deine Zeit, in der du die Arbeit erledigst, entlohnt wirst und an jemanden verkauft wirst. Heute verkaufen sich Menschen immer wieder an Arbeitgeber. Menschen arbeiten, um die ‚Karriereleiter' hochzukommen und verkaufen dafür ihre Zeit.
Der Gedanke des Kommunismus oder auch Sozialismus besteht unter anderem darin, dass es keine oberen Schichten gibt. Das heißt es gäbe niemanden, der für jemand anderen arbeitet; deine ganzen Büros, Fabriken, Unternehmen gäbe es in diesem Kaliber nicht. Solange Menschen jemandem zuarbeiten, der aus der Arbeitskraft dieser Menschen mehr Profit macht und dich nicht daran teilhaben lässt, existiert Sklaverei."

Die Situation, in der sich die drei befinden macht dies alles deutlich: durch die Restriktionen verlieren Tausende ihre Jobs, vor allem in der Tourismus- und Gastronomie Branche – Grenzen sind geschlossen, die Menschen können weniger Geld zum Vergnügen ausgeben. Und somit gehen die Menschen zum Ursprünglichen zurück und hinterfragen (vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben) die Art und Weise wie sie leben.

V: „Auch wir stecken in dieser Sklaverei. Aber es gibt verschiedene Stufen: was haben wir drei gemeinsam? Wir sind Selfmade – keiner von uns wurde in eine reiche oder mächtige Familie hineingeboren. Von Anfang an, als wir geboren wurden, hatten wir es einen Schritt schwerer als zum Beispiel meine Freunde in der Heimat, deren Eltern schon in dritter Generation das Familienunternehmen führen. Das erinnert mich auch stark an Engels Situation: reich geboren, konnte er alle Vorteile einer gehobenen Bildung genießen und nur deswegen rebellieren, weil er sich keine Sorgen um Geld machen musste. Wenn allen Menschen von Beginn an die gleichen Mittel zur Verfügung stehen würden, dann gäbe es den Kapitalismus nicht. Dann muss niemand um seine Grundsicherung bangen und dafür sorgen, andere reicher zu machen. Der Kapitalismus baut auf das Konstrukt der Schwächeren."

Das Bewusstsein, ein anderes Leben führen zu können, entstand bereits vor der Pandemie auch bei V: sie absolvierte ihren ersten akademischen Grad im Jahre davor, um sich flugs darauf in die soziale Kapitalismus-Maschine zu begeben. Schließlich wollte auch sie einmal im Jahr in den Urlaub fahren und sich regelmäßig neue Kleidung anschaffen. Der Rückgang sozialer Kontakte, die durch eine Quarantäne Situation automatisch herbeigeführt wird, macht jedwedes Anstreben von ‚sozialem Status' jedoch überflüssig. Von der neuen freien Zeit, die sie durch ihre Kündigung erhielt, konnte sie sich auf ihre Leidenschaft rückbesinnen. Dabei verstand sie, dass sie auch mit weniger Geld auskommen kann, wenn in der Gesellschaft die richtigen Strukturen dafür gegeben sind – wie in der jetzigen Situation.


V: „Weißt du, N, warum die meisten so unzufrieden mit ihrem Leben sind? Weil die Arbeit, die sie leisten, nicht ihre eigene ist. Sie arbeiten, um jemand anderen noch reicher zu machen. Klar kann man sagen, dass sie das Unternehmen voranbringen und damit ihren eigenen Arbeitsplatz sichern. Aber die Arbeit, die sie verrichten, steht niemals in dem Verhältnis zu dem Lohn, den der Chef oder die Spitze von deiner Arbeit erhalten. Verstehst du?
Und die Menschen merken das. Sie merken, dass etwas falsch läuft, dass sich das Hamsterrad immer schwerer betätigen lässt. Weil sie jedoch nie gelernt haben, dass es auch anders geht, passiert dann das: sie sind unzufrieden mit ihrem Job, wollen/können dem System nicht entfliehen, weil sie nicht wissen wie. Und verbittern.
Auch wenn sie verbittert sind, unzufrieden, so erledigen sie doch ihren Job. Und darauf zählt die obere Schicht; solange jemand ihnen von unten zuarbeitet, solange können sie sich mit dem Anhäufen ihres Reichtums beschäftigen. Dieses Klassensystem herrscht seit dem Mittelalter und hat auch zur Entwicklung der Menschheit beigetragen. Wann ist dieses System also so verrutscht, wenn es doch eigentlich helfen soll, das Leben besser zu machen?"

W: „Und umgekehrt ist man erst dann zufrieden, wenn man Arbeit nur für sich leistet. Heutzutage nennt man das Hobby, eigentlich ist es aber die reinste Form von Arbeit. Denn mit dieser Arbeit bereicherst du niemanden außer dich selbst. Und da liegt der große Unterschied. Kleidung zum Beispiel: vor der industriellen Revolution wurde Kleidung in Handarbeit gefertigt, jedes Teil war kostbar, einzigartig und nicht in Massen, eher in Maßen zu finden. Menschen sparten, um sich einen Mantel zu kaufen. Diejenigen, die die Kleidung herstellten, wurden in Relation zu ihrer Arbeit fair entlohnt. Im besten Fall sahen sie einen Sinn in ihrer Arbeit.
Die industrielle Revolution brachte dann neue Möglichkeiten mit sich; Möglichkeiten sich zu bereichern, für diejenigen, die bereits über ein Kapital verfügten. Reiche Fabrikanten rüsteten mit diesen Maschinen auf. Um die Ausgaben für die Maschinen wieder einzunehmen, mussten sie bei geringerem Preis mehr Kleidung herstellen, um mehr Menschen zum Kauf zu animieren. Wie kann man dieses Ziel erreichen? In dem man das teuerste kürzt: Personalkosten. Menschen sind immer die teuerste Arbeitskraft, sie litten also zuerst unter der Massenherstellung. Ihre Löhne sanken und wurden an Akkordarbeit gekoppelt, was zusätzlichen Druck aufbaut.
Ungebildet und abhängig von dem niedrigen Lohn können sie den Kreis dieser Sklaverei nicht brechen."

N hat ihr Hobby zum Beruf gemacht. Als Traum vieler Arbeitnehmer gilt das Leben nach eigenen Regeln, sich nur nach den eigenen Bedürfnissen und Leidenschaften richten. Man sieht vielerorts, dass diese Lebensweise machbar ist. Ob sie einfacher ist, glücklicher oder zufriedener macht ist abhängig von vielen Faktoren. Sie ermöglicht jedoch das Umdenken und in Frage stellen der heutigen Arbeitsformen.

Die Industrielle Revolution zieht bis heute mit erhöhtem Konsum ihre Spuren. Doch wieso nutzen wir immer noch die gleichen Strukturen, die im 19 Jahrhundert aufgebaut wurden? Wieso basiert unsere Gesellschaft, auch heute im „modernen" 21. Jahrhundert, immer noch auf den gleichen Strukturen, die für eine Spaltung der Klassen, eben für eine Entstehung dieser Klassen plädiert und lebt? Was ist also der erste Schritt zu einer gerechteren Welt?

Den Kreis des Kapitalismus erkennen, Menschen auf die Ungerechtigkeit aufmerksam machen, sie bilden und ihnen die Möglichkeit geben ihre Leidenschaften auszuüben, ohne um Essen und Obdach bangen zu müssen. Die Grundidee des Sozialismus beruht auf gegenseitigem Vertrauen, dem Vertrauen in die Gesellschaft und dem Ermöglichen eines humanen Lebens. Eines Lebens, frei von Sklaverei in jeglicher Form.

Brauchen wir also die heutige Gesellschaft in ihrer Form? Brauchen wir noch heute ein System, welches auf dem Leid der Ärmsten aufbaut, um die Reichsten reicher zu machen?

Diese Fragen zu beantworten sucht Engels' Werk und Leben. Wir können auch heute noch von ihm lernen, indem wir sein Leben und Werk betrachten, indem wir die Ideen, die er uns zur Verfügung gestellt hat, analysieren, interpretieren und in dem Maße nutzen, wie wir es für richtig erachten. Das Wichtigste was wir jedoch dabei lernen: dass wir den vorgefertigten Weg nicht gehen müssen, dass wir Umdenken können und die Gegenwart in eine bessere Zukunft wandeln können. Indem wir uns seine Ideen anschauen und in gewissen Maßen auch aneignen, können wir einen bewussteren Blick auf Kaufentscheidungen haben und damit bessere Entscheidungen treffen. Entscheidungen, für die wir einstehen können.

Ob ich glaube, Friedrich Engels Leben habe noch eine Bedeutung für unsere Gegenwart? Solange der Kapitalismus das vorherrschende System ist und Geld die Welt regiert, ja. Denn sein Werk, zusammen mit Karl Marx verfasst und vorangetrieben, zeigt uns die Aussicht auf eine andere, gerechtere Welt. Sein Werk hat den Verlauf der Vergangenheit maßgeblich beeinflusst, die Segel für unsere Gegenwart gesetzt. Nun ist es an uns das Steuer zu übernehmen und eine gerechtere Zukunft anzustreben.
Wie tot kann ein System aus der Vergangenheit sein, dass die Zukunft in neue Perspektiven taucht?

Die Autorin

Valeria Furin 

 

 

Veröffentlicht am 29.05.2020

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