Blog | Essaywettbewerb - Friedrich Engels

Stephan Gräfe - eingereicht am 29.5.2020

Statistiken und Gespenster, Fakten und Verschwörungen

Mit Friedrich Engels über den Umgang mit empirischen Daten im 21. Jahrhundert nachdenken


Lies, damned lies, and statistics

Zahlenwerte, Experimente und statistische Erhebungen strukturieren mittlerweile die gesamte Erlebniswelt: Medien zitieren wissenschaftliche Studien und stapeln in ihrer Berichterstattung einen wackeligen Turm aus Prozentangaben, Verteilungsmustern, Risikowerten, Kausalitäten und Korrelationen, die uns in präziser Terminologie und unter Verwendung klarer Ergebnisse über die Verfasstheit der Lebensrealität aufklären sollen. Gleichzeitig fährt seit Jahren wieder ein reaktionär-populistischer Ruck durch die westlichen Kulturzonen und Verschwörungstheorien durchziehen die Bevölkerung - das hat die Pandemie diesen Jahres noch einmal mit Nachdruck unterstrichen - wie ein blank liegendes Nervensystem. Dieser Umstand lässt sich nicht nur mit dem verächtlichen Schnauben aufgeklärter Bürger und Medien erklären, die Anhänger
dieser Theorien immer wieder generalisierend als verblendete Spinner mit Aluminiumhütchen abtun. Ebenso wie die Gesamtheit der neuen Nationalisten sich nicht nur aus fehlgeleiteten Erben eines modernisierten (wenn überhaupt) Nationalsozialismus zusammensetzt. In beiden Fällen ist das vielleicht sogar eher die Minderheit.

Bill Gates, der mit seiner Frau Melinda Gates schon die heimliche Kontrolle über die WHO übernommen hat, versucht ein Impfmonopol zu errichten, um einen großen Teil des Weltkapitals an sich zu reißen indem er alle Menschen zwangsimpfen lässt und ihnen zu Überwachungszwecken mit dieser Injektion zugleich einen kleinen Mikrochip implantiert.

So lässt sich eine der Theorien zusammenfassen, die im Zuge der Covid-19 Pandemie 2020 rasend schnell in Umlauf geraten ist. Von außen betrachtet mag das wie das wie eine wirre Fantasie oder ein mentales Irrlicht erscheinen, ist aber eigentlich ein Narrativ, das sich aus unzähligen Fakten zusammensetzt, die lediglich beim Collagieren in unstimmige Kontexte übertragen und fehlinterpretiert wurden. Beispielsweise bezieht die WHO (die sich zu 80 Prozent aus freiwilligen Beiträgen finanziert) tatsächlich den nicht unerheblichen Anteil von 10 Prozent ihres Beitragaufkommens von der Bill and Melinda Gates Foundation, was Bill Gates tatsächlich eine gewisse Einflussnahme sichert, die er auch genutzt hat, um sich insbesondere für Maßnahmen gegen Infektionskrankheiten auszusprechen. Und auch die Forschung zu einem Corona-Impfstoff finanziert die Gates Foundation. Den Standpunkt zur Zwangsimpfung entnahmen Anhänger der Theorie hingegen diesem Zitat von Gates: „It is fair to say things won't go back to truly normal until we have a vaccine that we've gotten out to basically the entire world." In der deutschen Übersetzung wurde zudem noch ein stärkerer Fokus auf eine Zwangsmaßnahme gelegt, indem „[...] until we have a vaccine that we've gotten out to basically the entire world." unter anderem folgendermaßen übertragen wurde: „[...] bis wir der gesamten Menschheit eine Impfung verabreicht haben." Und hinsichtlich der Mikrochips wurde eine Aussage von Gates, die seine Zuversicht ausdrückte, dass es zukünftig digitale Zertifikate geben werde, die anzeigen, wann zuletzt getestet wurde, wie der Befund ausgefallen ist oder wann und ob überhaupt geimpft wurde, mit einem der zahlreichen von der Gates Foundation finanzierten Forschungsprogramme in Zusammenhang gebracht, in welchem theoretisch die Möglichkeit erörtert wird, bei einer Injektion einen Mikrochip zu verabreichen, der vitale Daten aufzeichnet.

Diese Theorie ist also keineswegs eine reine Fantasterei, es ist ein nach einer vorangegangen Überzeugung zusammengesetzter Flickenteppich aus tatsächlich belegbaren Informationen. Bleibt natürlich die Voreingenommenheit, die überhaupt dazu geführt hat, diese Daten derart gefiltert zusammenzutragen. Warum sind es immer Geheimbünde, Eliten von Milliardären oder Regierungen, die diese Pläne sorgsam orchestrieren? Weil, so die Begründung, die historischen Ereignisse der vergangen Jahrhunderte es doch gezeigt haben: das FBI hatte nachweislich während der Prohibition heimlich vergifteten Moonshine1 unter die Bevölkerung gegeben, um den Eindruck zu verstärken, dass Schwarzgebrannter gefährlich sei, der Kreml hatte versucht die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl zu vertuschen und Whistleblower Edward Snowden unlängst aufgedeckt, dass die NSA großangelegt Bürger überwacht. Das ganze Grunddenken von Verschwörungstheorien, des weiteren ebenso der Erklärung parapsychologischer Phänomene, basiert im Grunde auf reiner, blind und falsch gedachter Empirie.

Engels als Magnetiseur

Diese Problematik hatte schon Friedrich Engels erkannt, als er sich in seinem posthum in der Dialektik der Natur nochmals veröffentlichten Text Die Naturforschung in der Geisterwelt mit der Verbindung zwischen Empirie und der Erscheinung übernatürlicher Phänomene auseinandersetzte. Noch im 21. Jahrhundert kann dieser schnörkellose (und humorvolle) Text, die überhebliche Geistlosigkeit aufzeigen mit welcher die Naturwissenschaft - und mittlerweile auch die breite Bevölkerung - die empirischen Verfahren wie einen mechanischen Apparat handhabt. Dazu heißt es bei Engels einleitend:

„Es ist ein alter Satz der in das Volksbewußtsein übergegangenen Dialektik, daß die Extreme sich berühren. Wir werden uns demnach schwerlich irren, wenn wir die äußersten Grade von Phantasterei, Leichtgläubigkeit und Aberglauben suchen nicht etwa bei derjenigen naturwissenschaftlichen Richtung, die, wie die deutsche Naturphilosophie, die objektive Welt in den Rahmen ihres subjektiven Denkens einzuzwängen suchte, sondern vielmehr bei der entgegengesetzten Richtung, die, auf die bloße Erfahrung pochend, das Denken mit souveräner Verachtung behandelt und es wirklich in der Gedankenlosigkeit auch am weitesten gebracht hat."

Geistererscheinungen und empirische Wissenschaft, Statistiken und Spiritismus sind dem allgemeinen Verständnis nach Bereiche, die sich, wenn sie sich nicht sogar ausschließen, zumindest an entgegengesetzten Orten befinden - warum aber berühren sich, wie Engels sagt, die Extreme?

Um diesen Gedanken auszuführen, präsentiert er mehrere fähige und mitunter auch weltbekannte Naturwissenschaftler, die in ihrer Biographie irgendwann dem Spiritismus, Mystizismus oder anderen Formen fantastischer Annahmen verfallen sind: Francis Bacon (im Originaltext „Franz Bacon") gibt in seiner Naturhistorie Rezepte zur Goldherstellung (praktiziert also Alchemie), Isaac Newton beschäftige sich über seinen Lebensabend damit, die Johannes Offenbarung auszulegen und der Zoologe und Botaniker Alfred Russel Wallace erforschte mittels der Hypnose die Gallsche Schädelkarte2 und bezeugte später die Existenz  von Geistererscheinungen. Gerade diesen letzte Fall des Alfred Russel Wallace, der parallel zu Darwin die Theorie von der Artenveränderung und natürlichen Auslese formuliert hatte, zeichnet Engels dann genauer nach und beschreibt, wie dieser bei eigenen Studien nach dem Vorbild des Magnetiseurs Spencer Hall Patienten in Trance versetzte, um an ihnen die Richtigkeit der Gallschen Schädelareale aufzuzeigen. Engels erzählt dann weiterhin von einer Vorführung Spencer Halls, welcher er selbst beigewohnt hat und bei der dieser an einem hypnotisierten Mädchen durch Druck der betreffenden Areale und sprachliche Suggestion die zugehörigen Reaktionen auslöste: „[...] beim Organ der Kinderliebe (philoprogenitiveness) z.B. hätschelte und küßte sie ein Phantasiebaby usw.". Ein experimentelles Vorgehen also - eine These, wie die Struktur des Gehirns nach der Gallschen Schädelkarte, wird durch die Methode der Hypnose bestätigt indem man die betreffenden Areale reizt und so Reaktionen hervorruft, die mit dem zu überprüfenden Datensatz verglichen werden. Engels  machte sich aus Interesse ebenfalls daran einen solchen Versuch durchzuführen, wofür er einen zwölfjährigen Jungen in Trance versetzte. Da er aber kritischer gegenüber der Ausgangsthese vorging und dementsprechend die Möglichkeiten der Einflussnahme auf eine hypnotisierte Person austestete, kam er zwar zu dem Schluss, dass sich die Reaktionen, die er bei Hall gesehen hatte, reproduzieren ließen, er aber genauso gut die Areale vertauschen konnte, da der Junge im hypnotisierten Zustand sich willenlos jedem Einwirken fügte. Zudem bemerkte Engels ebenfalls, dass es zunächst der bewussten Unterwerfung des Hypnotisierten vor dem Operator bedarf damit diese Ergebnisse überhaupt erzielt werden können, denn auch „[d]er zaubermächtigste Magnetiseur der Erde ist mit seinem Latein zu Ende, sobald sein Patient ihm ins Gesicht lacht." Die Vorführung war zwar einer naturwissenschaftlichen Methodik entlehnt, aber die zugrunde liegende These wurde bei der Durchführung nicht kritisch hinterfragt, sondern schlicht vorausgesetzt.

Mit dem gleichen Feuereifer machte Engels sich dann auch daran, die Geisterfotografien und -erscheinungen, von deren Echtheit Wallace zeitlebens überzeugt war, zu dekonstruieren.

Die Beispiele, die Engels in seinem Text beschreibt, scheinen veraltet, sind aber nach wie vor virulent im doppelten Sinne des Wortes. Denn das Grundproblem ist dort schon angelegt, es besteht in einem blinden Vertrauen in den objektiven Charakter naturwissenschaftlicher Methoden - Zahlen sind unbestechlich, das glaube ich erst wenn ich es sehe, Beteuern ist gut, beweisen ist besser -, eine Hypothese muss nicht gedanklich überprüft werden, die Ergebnisse werden schon zeigen, ob sie zutrifft oder nicht. Und selbst die erzielten Ergebnisse werden häufig nicht zureichend hinterfragt, obwohl sie oft mehrdeutig sind und je nach Auslegung vollkommen andere Konsequenzen implizieren.

0 ist nichts und 100 Prozent sind das Ganze, so klingt es unumstößlich aus dem Mathematik- und Physikunterricht der Schule nach, doch manchmal ist 100 Prozent auch äquivalent mit 1 von 7.000. Diese für viele Menschen erklärungsbedürftige Aussage ergibt sich aus dem Verhältnis von absoluten Risiko und relativen Risiko.


1.300.000 Meilen Mississippi

Ein oft zitiertes Beispiel zur Erhellung dieses Zusammenhanges ist die scheinbare Schreckensnachricht, die das britische Komitee für Arzneimittelsicherheit Mitte der Neunziger Jahre veröffentlichte: Die Antibabypillen der dritten Generation erhöhen das Thromboserisiko (also potenziell lebensbedrohlicher Blutgerinnsel in Beinen und Lunge) um 100 Prozent. In sogenannten Dear Doctor Letters wurde diese Information an 190.000 Apothekerinnen und Apotheker, Ärzte und Ärztinnen sowie Leiterinnen und Leiter von Gesundheitsämtern weitergegeben. Auch die Medien reproduzierten die Nachricht massenwirksam. In der Folge setzten viele besorgte Frauen die Pille ab, was wiederum zu einem enormen Anstieg ungewollter Schwangerschaften und Schwangerschaftsabbrüchen führte.

Wenn man nun genauer die Daten betrachtet auf denen dieses Ergebnis basiert, stellt sich heraus, dass die Studie ergab, dass von 7.000 Frauen, welche die Pille der zweiten Generation nahmen, eine Frau eine Thrombose bekam, bei der Pille der dritten Generation bekamen von 7.000 Frauen zwei eine Thrombose. Die Zahl hatte sich lediglich von 1 auf 2 erhöht, was aber einer Verdopplung, also einem Anstieg um 100 Prozent entspricht. Die absolute Risikozunahme hatte also 1 von 7.000 betragen, während die relative Risikozunahme bei 100 Prozent lag. Beide Darstellungen der Statistik sind richtig, aber besitzen vollkommen unterschiedliche Implikationen. Ein um 50 Prozent vermindertes Risiko kann bedeuten, dass sich beispielsweise eine Sterberate unter 10.000 Patienten von 2000 auf 1000 halbiert hat – oder aber von 2 auf 1. Empirische Ergebnisse sind genau wie Methoden immer noch auf Interpretationen angewiesen.

Ein weiteres Problemfeld bildet die Abbildung von Werten unter Verwendung von Wahrscheinlichkeiten im Vergleich zu natürlichen Häufigkeiten. Letztere gab es schon immer - jedes Tier (uns eingeschlossen), das durch Erfahrung lernt, lernt durch natürliche Häufigkeiten. Auf etwas, das in 9 von 10 Fällen nicht gelingt, würde kaum einer sein Leben wetten. Doch Prozentangaben sind viel abstrakter, da oft nicht klar ist, auf welchen Grundwert sie sich beziehen. „Einer von 100 Zentraleuropäern besitzt eine Schusswaffe." ist eine verständliche Aussage, doch „1 Prozent aller Zentraleuropäer besitzt eine Schusswaffe." nicht unbedingt, da nicht einmal ersichtlich ist, wieviele Zentraleuropäer es denn überhaupt gibt. Ungleich komplizierter wird es, wenn mit bedingten Wahrscheinlichkeiten operiert wird. Standardbegriffe der Statistik, wie Sensitivität und Spezifität von Tests3 können von erschreckend vielen Ärzten nicht erklärt werden, obwohl sie in ihre Prozenteinschätzungen hineinwirken, wenn sie beispielsweise Auskunft über Krebsrisiken bei positiv ausgefallenen Testergebnissen erteilen. Ein medizinischer Test kann nämlich vier Ergebnisse haben: positiv bei Vorliegen der Krankheit, positiv ohne Krankheit, negativ bei Vorliegen der Krankheit sowie negativ ohne Krankheit. Die Anteile, mit denen diese vier Ergebnisse auftreten, nennt man Richtig-positiv-Rate, Falsch-positiv-Rate, Falsch-negativ-Rate und Richtig-negativ-Rate. Wenn von 100 Menschen durchschnittlich 10 positiv auf eine tödliche Krankheit getestet werden, ist es im Regelfall nicht richtig anzunehmen, die Wahrscheinlichkeit bei einer Untersuchung eine tödliche Krankheit diagnostiziert zu bekommen läge bei 1 zu 10 (oder 10 Prozent). Denn bei fast jedem Test gibt es Menschen die positiv getestet werden, aber nicht krank sind und Kranke die nicht positiv getestet werden. Wenn von den 10 positiv Getesteten beispielsweise 7 gar nicht erkrankt sind (ein Wert, der bei manchen Tests nicht aus der Luft gegriffen ist) und von den 90 negativ Getesteten 1 Person krank ist, macht das 4 statt 10 Erkrankungen, eine Wahrscheinlichkeit von 0,4 zu 10 (oder 4 Prozent).

Ein letztes Beispiel, um es Engels ausführlichen Beschreibungen gleich zu tun, mögen die von unterschiedlichen Medien lancierten Schlagzeilen sein, die jährlich aus dem Global Gender Gap Report resultieren und 2019 „Gleichberechtigung erst im Jahr 2276" oder „Erst in 257 Jahren sind Frau und Mann gleichberechtigt" lauteten. Das nennt man lineare Trendextrapolation, also die Prognose einer Entwicklung auf Grundlage eines Datenstandes, dessen Wachstum ohne Veränderungen in die Zukunft projiziert wird. Solche  Extrapolationen hat Mark Twain schon 1883 in seinem Erzählband Leben auf dem Mississippi als lächerliche Denkfigur entlarvt. Dazu schrieb er:

„Binnen 170 Jahren hat sich der untere Mississippi um 240 Meilen verkürzt. Das macht im Durchschnitt 1 1/3 Meilen pro Jahr. Daher sieht jeder Mensch, es sei denn er ist blind oder ein Idiot, dass vor einer Million Jahren der untere Mississippi mehr als eine Million dreihunderttausend Meilen lang gewesen ist, und in den Golf von Mexiko hinausragte wie ein Angelstock."

Aus aktuellen Wachstumsraten lässt sich weder ableiten ob Frauen in 10, 100, 1000 Jahren oder jemals das gleiche Gehalt wie Männer beziehen werden. Diese Rechnungen funktionieren nur im luftleeren Raum, für komplexe Systeme sind sie nicht ausgelegt, zu viele Faktoren wirken in die Gemengelage hinein. Das wird schon deutlich wenn die Zahlen des Global Gender Gap Reports hinsichtlich weltweiter Gleichstellung aus den vorangegangen Jahren im Vergleich betrachtet werden: 257 Jahre (2019), 202 Jahre (2018), 170 Jahre (2016), 118 Jahre (2015) usw.

Und wenn diese Zahlenabfolge jetzt einen Moment länger betrachtet wird, könnte einem gleich auffallen, dass der Wert jedes Jahr ansteigt und daraus wiederum die These ableiten, dass es sich mit der Gleichberechtigung sogar eher ins Gegenteil entwickelt. Aber  auch das wäre letztlich eine verkürzte Interpretation der Zahlen und so fängt das falsche Denken an.

Am Ende und am Anfang: Dialektik

Es ist nicht leicht sich diesen naturalistischen Fehlschlüssen zu entziehen. Naturwissenschaftliche Verfahren und Daten haben eine gläserne Autorität, aber genau hinter diesen Schein, muss zurückgetreten werden, wenn man den Errungenschaften der Naturwissenschaft wirklich Rechnung tragen will. Ansonsten verfällt das Denken nur auf das Auge und ist gerade deshalb blind. Oder wie Engels es gegen Ende des Textes zusammenfasst:

„Es zeigt sich hier handgreiflich, welches der sicherste Weg von der Naturwissenschaft zum Mystizismus ist. Nicht die überwuchernde Theorie der Naturphilosophie, sondern die allerplatteste, alle Theorie verachtende, gegen alles Denken mißtrauische Empirie. Es ist nicht die aprioristische Notwendigkeit, die die Existenz der Geister beweist, sondern die erfahrungsmäßige Beobachtung [...]. Wenn wir den spektralanalytischen Beobachtungen von Crookes glauben, die zur Entdeckung des Metalls Thallium führten, oder den reichen zoologischen Entdeckungen von Wallace im Malaiischen Archipel, so verlangt man von uns denselben Glauben für die spiritistischen Erfahrungen und Entdeckungen dieser beiden Forscher. Und wenn wir meinen, daß hier doch ein kleiner Unterschied stattfinde, nämlich der, daß wir die einen verifizieren können und die andern nicht, so entgegnen uns die Geisterseher, daß dies nicht der Fall, und daß sie bereit sind, uns Gelegenheit zu geben, auch die Geistererscheinungen zu verifizieren."


Die Naturwissenschaften bieten einen riesigen Fundus an Beobachtungen und Hypothesen, die, wenn sie richtig  Zusammengetragen werden, so manchen fantastischen Schluss erlauben. Auch heute finden sich promovierte Forscher, wie der Psychologe und Physiker Walter von Lucadou, die Spukphänomene mit einem Arsenal an Theoriegebilden herleiten: So genannte nichtlokale Korrelationen, die letztlich aus der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation folgen und in der Quantentheorie wirken - von Einstein als spukhafte Fernwirkung beschrieben - sorgen für die Nicht-Beobachtbarkeit der Geistererscheinungen und durch die Gesetze der nicht-linearen Thermodynamik sei es möglich, dass auch größere Gegenstände durch den Raum schweben können. Doch die reine Existenz von bestimmten Daten und Systemen bedeutet nicht zugleich, dass sie jeden Vorgang hinreichend erklären in den sie eingebettet werden. Dafür braucht es ein selbstreflektiertes kritisches Denken, also ein dialektisches. Mehrmals in der Geistesgeschichte (am wirkmächtigsten durch Hegel und die beiden Gespanne Engels und Marx wie Adorno und Horkheimer) hat das dialektische Denken den Diskurs beherrscht, Revolten und Umstürze des Denkens ausgelöst. Dennoch hat sich ein dialektisches Bewusstsein in der Bevölkerung immer wieder zurück- und überhaupt niemals voll ausgebildet. Das mag daran liegen, dass es eine ständige Anstrengung ist. Engels beschrieb es in der Dialektik der Natur folgendermaßen:

„Die Dialektik, die sog. objektive, herrscht in der ganzen Natur, und die sog. subjektive Dialektik, das dialektische Denken, ist nur Reflex der in der Natur sich überall geltend machenden Bewegung in Gegensätzen, die durch ihren fortwährenden Widerstreit und ihr schließliches Aufgehen ineinander, resp. in höhere Formen, eben das Leben der Natur bedingen."

Das Denken wird sich der ihm gestellten Aufgabe bewusst und dieses Bewusstwerden bestimmt wiederum seinen gesamten Verlauf - ein System, das sich in bewusst regulierten intellektuellen Operationen vollzieht. Das Denken setzt jeden Gedanken, der im Prozess des Denkens auftaucht, mit der Aufgabe (und deren Bedingungen) in Beziehung, die durch den Prozess des Denkens gelöst werden soll, und gleicht ihn mit ihr ab. Durch dieses Nachprüfen, Kritik-üben und Kontrollieren wird das Denken zu einem bewussten Prozess, also einem dialektischen Denken.

Diese Bewusstheit äußert sich in einem eigentümlichen und  unverzichtbaren Privileg: Nur der denkende Mensch kann sich irren. Reine Assoziationsprozesse, die unreflektiert Beobachtungen zu Kausalketten zusammenschmieden, können vielleicht ein objektiv befriedigendes, aber der Aufgabe nicht adäquates Resultat ergeben, doch ein Fehler, der als solcher dem Subjekt bewusst wird, ist nur im dialektischen Denkprozess möglich, dessen Ergebnisse das Subjekt mit den objektiven Gegebenheiten, von denen es ausgeht, vergleicht. Die paradoxe Formulierung ein wenig feingeschliffen, ließe sich genauer sagen: Das Privileg eines Denkens als bewusster Prozess ist die Möglichkeit, sich eines Fehlers bewusst zu werden. Dazu muss man sich zuweilen in Bereiche reiner Theorie begeben, immer das Gegenteil mit einschließen, den Gegenstand umwälzen. Das wussten Engels und Marx nur zu gut, schließlich braucht auch der Materialismus diese Komponente, weshalb Engels in Die Naturforschung in der Geisterwelt zu dem Schluss kam:

„Man mag noch so viel Geringschätzung hegen für alles theoretische Denken, so kann man doch nicht zwei Naturtatsachen in  Zusammenhang bringen oder ihren bestehenden Zusammenhang einsehn ohne theoretisches Denken. Es fragt sich dabei nur, ob man dabei richtig denkt oder nicht, und die Geringschätzung der Theorie ist selbstredend der sicherste Weg, naturalistisch und damit falsch zu denken. [...] Und so straft sich die empirische Verachtung der Dialektik dadurch, daß sie einzelne der nüchternsten Empiriker in den ödesten aller Aberglauben, in den modernen Spiritismus führt."

Gleiches veranschlagt er ebenso, und konsequenterweise, auch für die Mathematik. Die empirische Wissenschaft muss das kritische Denken praktizieren und in ihrem Fahrwasser muss es die durch oberflächlich-naturwissenschaftliches Denken verwirrte Gesellschaft auch.

Das ist letztlich ein altes Lied, aber den Text hat trotzdem noch niemand auswendig gelernt, verinnerlicht, bei einem Karaokeabend schafft man es vielleicht, die Zeilen, halb vom flimmernden Bildschirm ablesend, neu zu beleben, doch das reicht nicht aus. Kritisches Denken, dialektisches Denken verlangt einem Mühe ab, es lässt sich nicht nebenher praktizieren und muss immerzu jede Sicherheit zugleich auch hinterfragen. Am Ende kann sich die Empirie nur vor dem Übergriff von Verschwörungstheoretikern, Geistersehern und anderen Fantastereien schützen indem sie theoretische Erwägungen vorbringt. Und da diese Einsicht damals wie heute aktuell ist, endet dieser Gedankengang dann auch mit demselben Zitat des Biologen, Thomas Henry Huxley, mit dem schon Engels seinen Text geschlossen hatte:

„Das einzige Gute, das meiner Ansicht nach bei dem Nachweis der Wahrheit des Spiritualismus herauskommen könnte, wäre dies, ein neues Argument gegen den Selbstmord zu liefern. Lieber als Straßenkehrer leben, denn als Verstorbner Blech schwätzen durch den Mund eines Mediums, das sich für eine Guinea per Sitzung vermietet!"4

 

Der Autor

Stephan Gräfe studiert aktuell Philosophie, Künste, Medien in Hildesheim. Als Schriftsteller und Künstler lebt und arbeitet er in Hannover und Austin (Texas). Seine Texte wurden in mehreren Anthologien, Zeitschriften und Magazinen abgedruckt.

 

 

1 Moonshine wurde der Schwarzgebrannte genannt, der während des Alkoholhverbots der Prohibitionszeit in den USA, 1919 bis 1933, von der Bevölkerung illegal produziert und ausgeschenkt wurde. Um nicht von den Behörden erwischt zu werden, wurde der Schnaps oft nachts in versteckten Destillen gebrannt, also gewissermaßen bei Mondschein.

2 Eine Kartographie des Schädels, die das Hirn in bestimmte Bereiche unterteilt, welche Aufschluss über die Eigenschaften seines Besitzers geben (Intelligenz, Aggressivität, Mut usw.) sowie bestimmte Vermögen wie Musikalität oder Organtätigkeiten beheimaten.

3 Sensitivität misst den Anteil der  tatsächlichen Positiven, die korrekt als solche erkannt werden (z.B. den Prozentsatz der Kranken, die korrekterweise als solche erkannt werden). Spezifität misst den Anteil der tatsächlichen Negativen, die korrekt als solche identifiziert werden (z.B. den Anteil der gesunden Menschen, die korrekterweise als nicht krank erkannt werden).

4 Guinea bezeichnet eine von 1663 bis 1816 in Umlauf gewesene britische Goldmünze.


Literatur

Karl Marx, Friedrich Engels, Werke: Band 20. Berlin 1962.

Elke Kurz-Milcke, Gerd Gigerenzer, Laura Martignon, Risiken durchschauen: Grafische und analoge Werkzeuge. In Stochastik in der Schule. Zeitschrift des Vereins zur Förderung des schulischen Stochastikunterrichts, Heft 1, Band 31, 2011.

Ingeborg Stelzl, Fehler und Fallen der Statistik: für Psychologen, Pädagogen und
Sozialwissenschaftler. Münster 2005.

Mark Twain, Das Leben auf dem Mississippi. Stuttgart 1939. Übersetzt von Max Kellerer.

Veröffentlicht am 29.05.2020

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