Blog Stadtteilschreiber

DER STADTTEILSCHREIBER MACHT HALBZEITPAUSE BEI SCHLUPP

ZWISCHENBILANZ - Auto, Klavier, Rewe und ein Bier

Seit Ende März erkunde ich nun die Stadtteile Hesselnberg und Südstadt. Hab mir viel angeschaut, angehört und mit noch mehr Leuten gesprochen. Was immer wieder auffällt: Auf den Straßen ist recht wenig los - also auf den Bürgersteigen. Die Straßen selbst sind voll mit Autos. Man bekommt den Eindruck, dass die Menschen sich hier nur weg- und wieder zurückbewegen. Mit Bussen, der Bahn, mit Autos und Zweirädern.

Zu Fuß geht man offenbar nur dann, wenn es sich nicht vermeiden lässt oder eine frische Pizza sein soll. Ich freu mich jedenfalls nach einem terminreichen Tag auf den Aufstieg über den Döppersberg rauf in die Südstadt. Das Problem: Ich habe großen Hunger, aber noch mehr Angst vor Kampfpreis-Döner in Bahnhofsnähe. Also steuere ich zielstrebig den neuen Erlebnis-Hauptbahnhof an; neben Bäckereien, Bäckereien und Bäckereien gibt es hier ja auch eine Bahnhofsgastronomie, die es locker mit der Fußgängerzone aufnehmen kann.

Und ich mag Klaviermusik. Wenn sie nicht von jungen Erwachsenen gespielt wird, die Melancholie mit Kitsch verwechseln und man andauernd Angst haben muss, dass sich nach der Darbietung wieder jemand auf die Gleise legt. Ich wähle zwischen all dem Freizeitpark-Gedöne also den REWE To Go, der nach eigener Aussage Reisende schnell und hochwertig verpflegt. Bin ich Reisender, wenn ich von der Elberfelder Innenstadt zu Fuß in die Südstadt gehe? Natürlich bin ich das. Und deshalb lass ich mich hier verpflegen. Das jedoch leider weder schnell noch hochwertig. UND bei schlimmer Klaviermusik.

Warum hat das Personal bei REWE To Go eigentlich ein Headset? Was kriegt es da zu hören? „Sei bei dem Typ mit dem Plastiksalat in der Plastikschale und dem Plastikbesteck besonders freundlich! Der guckt so grimmig und schreibt womöglich darüber!" „Jau, ok!", kann das Personal dann in das kleine Mikro murmeln und verschwörerisch grinsen. „Vielleicht einen Milchkaffee dazu?" „Wozu? Zu dem Salat?" „Ja, könnte doch ..." „Sie trinken also Milchkaffee zum Salat?" „Nein." „Also." „Was anderes?" „Als Salat?" „Nein, als Milchkaffee." „Nein." „Dann noch einen schönen Tag. Genießen Sie die Sonne und die Klaviermusik." „Danke, nein."

Ganz anders geht es bei Maren Sleiman zu. Zwar hat sie wegen der blickdichten Scheiben zwangsläufig den Tunnelblick, den man früher am Bahnhof hatte - das aber sehr würdevoll. Täglich schließt sie die Tür zur Gaststätte Schlupp auf, um 16 Uhr, weil „Kein Bier vor vier". Schlupp befindet sich auf der Ecke Weststraße/Brüningstraße und ist Kult. Salat gibt es hier nicht. Gäbe es ihn, würde Maren Sleiman NIEMALS Milchkaffee dazu anbieten. Schlupp befindet sich nahe der Hopfen-, Malz- und Gerstenstraße.

Ich lerne Maren bei Stauder Pils in lange vergessenen 0,2l-Schwenkern zum Preis von niedlichen 1,20 Euro ein wenig kennen. Das „Herzlich willkommen" mit gemaltem Herz draußen auf der Tafel wird hier drin gelebt. Es ist nur so mittelhell, so ziemlich alles aus Holz (anstatt Plastik) und einfach egal, weil nach 16 Uhr und jetzt mal Bierchen her. Sämtlich namentlich bekannte (Stamm)Feierabendgäste müssen lediglich grüßen und kriegen dann ohne weitere Worte ihr (Stamm)Getränk. Ich versuche mir Maren mit Headset vorzustellen, durch das von irgendwoher Anweisungen zu ihr durchdringen. Nicht möglich.

Als ich für mich persönlich und mit mir ganz allein darüber nachdenke, ob nun eigentlich kitschiges Klaviergeklimper oder vielleicht doch Radio Wuppertal schlimmer ist, informiert mich der Sender auch schon über aktuelle Geschehnisse in unserer Stadt. Die sind zumindest an diesem Tag in etwa so spektakulär wie die bahnhöfliche Gastro-Offerte.

Aber wahrscheinlich ist es genau das. Es geht eben nur nebensächlich um die ganze Kulisse da draußen, um vermeintlichen Pomp und Konsumsensationen. Weder in der Stadt noch in einzelnen Stadtteilen. Oft geht es einfach nur um einen ganz kleinen Ausschnitt, einen Ausblick auf die Straße und darum, genau da das Richtige zu tun. Schlupp - heute noch im original 70er-Jahre-Outfit - ist durch Maren Sleiman längst in die Route für Semester-Erstis aufgenommen worden, weil Studenten hier bevorzugt „vorglühen" und feiern. Und wegen der Herzlichkeit.

Um all diese Menschen geht es. Sie zu fragen, warum sie hier leben. Zu erfahren, warum es sie ständig die Treppe Richtung Bahnhof runterspült. Und warum man sie nicht auf der Straße sieht. Und wie sie selbst das alles sehen. Damit sie zu Wort kommen und sich uns näherbringen. Oder uns verunsichern. Oder schocken. Oder Vorschläge einbringen. Oder Ideen entwickeln. Deshalb bleibe ich gespannt und erkunde weiter die Stadtteile Hesselnberg und Südstadt. Alles ohne Headset.

 

Foto: Jörg Degenkolb-Degerli

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Veröffentlicht am 05.07.2019

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