Blog Stadtteilschreiber

Der Stadteilschreiber schämt sich fremd.

WÜRDELOS 2020 - EIN PAAR GEDANKEN IN STILLEM GEDENKEN

Es ist Freitag, es ist früh, es ist der 8. Mai. Und es ist natürlich still. Trotz Lockerungen herrscht immer noch der Quasi-Stillstand und das Homeoffice hält die Berufstätigen am Küchentisch fest. Am Fuße der Kieselstraße hat man einen fantastischen Blick auf und über Elberfeld hinaus. Ich habe an der börse geparkt und habe mich dann auf den Weg in die Südstadt gemacht, die sich in nördlicher Richtung eben mit der Kieselstraße Richtung Tal neigt.

Ich schaue rechts und links an den Häuserzeilen entlang. Wie fast alle Häuser hier im Quartier sind es Nachkriegsbauten. Heute vor 75 Jahren hat hier alles in Trümmern gelegen. Ich lehne am oberen Geländer der Treppe, die runter zum Hauptbahnhof führt. Ein Stück weiter westlich liegt der Bahnhof Steinbeck - zu Zeiten der Deutschen Reichsbahn fand dort „die Deportation von über 1000 jüdischen Bürgern Wuppertals über osteuropäische Ghettos in die nationalsozialistischen Vernichtungslager statt." (Wikipedia)

Meine Blicke wandern übers Tal, dessen Bilanz aus dem Zweiten Weltkrieg bei Wikipedia folgendermaßen lautet:
„12.000 Wuppertaler ließen als Soldaten an der Front ihr Leben bzw. kehrten nicht wieder heim. In Wuppertal kamen insgesamt 7.000 Zivilisten bei den Luftangriffen ums Leben. Es gab 2.700 Luftalarme, die die Bevölkerung zumeist nachts in die Keller trieben. Auf das Stadtgebiet fielen 631.590 Brandbomben, 58.320 Phosphorbomben, 7.527 Sprengbomben, 357 Minen und 100 Granaten. 200.000 Wuppertaler verloren ihr Zuhause, weitere 100.000 konnten ihre teilzerstörten Wohnungen weiter bewohnen. 11.000 Häuser wurden aufgrund ihrer totalen Vernichtung nicht wieder aufgebaut. [...] 6.583 Wehrmachtsangehörige und 327 Zivilisten blieben für immer vermisst."

Altkanzler Helmut Kohl, den ich unterm Strich nie mochte, hat es einmal „die Gnade der späten Geburt" genannt, dass er in der Nazizeit nicht hatte in Schuld geraten können. Und es lohnt sich auf jeden Fall, mal darüber nachzudenken, wie man in dieser Zeit wohl selbst gewesen wäre und gehandelt hätte. Auf welcher Seite man gestanden hätte. Dann kann man auch ganz schnell einen Brückenschlag in das Hier und Jetzt machen.

Denn wie vor ein paar Jahren noch bei Pegida - wir erinnern uns: Das Kürzel steht für „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" - gibt es jetzt nach nur ein paar Wochen Einschränkung eine Möchtegern-Partei mit dem Namen Widerstand2020 - und jedes Mal, wenn das irgendwo ausgesprochen oder hingeschrieben wird, dreht sich ein hingerichteter Widerstandskämpfer oder eine hingerichtete Widerstandskämpferin im Grabe um. Ich werde da also gut haushalten.

Diese Bewegung ist keine Partei, sondern bloß ein Sammelbecken für die wieder einmal sogenannten Zukurzgekommenen, für die weshalb auch immer Frustrierten, für die sich irrational bedroht Fühlten und Belogenen, für Perspektiv- und gänzlich Ideenlose, für Heilsuchende und vermeintlich Erweckte, und vor allem für die übersättigten, konsumgeschädigten Egomanen, die vor lauter mentalen Fressbergen nicht mal mehr den Tellerrand sehen können, geschweige denn noch irgendwie darüber hinaus.

Und damit ist das Wort FÜR auch schon völlig überreizt. Die Anhängerschaft ist nämlich nur GEGEN ganz vieles. Vor allem gegen die momentan erwirkten massiven Freiheitseinschränkungen, die ihnen abverlangen, mal eine Zeitlang ihre persönlichen Bedürfnisse für das Gemeinwohl in die zweite Reihe zu stellen.
Da schwingt jetzt aber schon auch ein wenig Verachtung mit, ermahne ich mich während des Schreibens.
Aber nur ganz kurz. Geht schon wieder.
Denn wenn ich bei Wikipedia noch ein bisschen weiterlese, zum Beispiel das hier:

„Während des Zweiten Weltkriegs war die Stadt Wuppertal [...] Ziel von zwei schweren Luftangriffen. Bei diesen Luftangriffen wurden große Bereiche der Wuppertaler Stadtteile Barmen, Elberfeld und Ronsdorf durch Bomben der britischen Royal Air Force und darauf folgende Feuerstürme zerstört."

Wenn ich so was also lese, von schweren Luftangriffen, Brandbomben und Feuerstürmen, dann denke ich schon - obwohl ich weiß, dass Vergleichen immer ganz schwierig ist - dann denke ich: Mensch, so 'ne Kontaktsperre. Solidarität zeigen. Mund-Nasen-Schutz tragen. Hände waschen. - Wenn DAS reicht, aus unser aller Luxusproblem-Mücken einen Riesen-Krisen-Elefanten zu machen, dann müssen wir dringend über menschliche Würde und vor allem das Gegenteil davon sprechen (Ich weiß jetzt, wer das Klopapier gehamstert hat).

Die Lockerungen lassen jedenfalls hoffen, dass ich hier in meinen Stadtteilen bald wieder echte Menschen um mich herum sehe, die ich darauf ansprechen kann. Und bis dahin heißt es für mich erstmal: Fremdschämen.

Fotos: Jörg Degenkolb-Degerli 

 

 

+++ Projekt-Ticker +++ Zur Zeit übt die börse sich im Digitalen.

Und in Wettbewerben:

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Veröffentlicht am 08.05.2020

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