Blog Stadtteilschreiber

Der Stadteilschreiber im Hogwarts der Herzen

1. Mai, April vorbei - Die sehr stille Revolution südlich der Wupper

Die vermeintliche Menschentraube vor den CityArkaden wirkt mit ihren vielen Lücken auf mich, als hinge sie an einer bei der Weinlese vergessenen Rebe. Dieses Bild ist so traurig - ich habe gar nicht genug Wein im Regal, um mir das schöntrinken zu können. Kundgebung in Zeiten von Corona.

Zum Glück bin ich nur auf der Durchreise und muss nicht noch länger auf diese deprimierende Veranstaltung blicken. Ich steuere das Tor zur Stadt an, um durch das Tor die Stadt zu verlassen. Im Hauptbahnhof laufe ich schnurstracks durch auf Gleis 9 3/4, springe durch die Wand und lande direkt am Hesselnberg, auch bekannt als Hogwarts der Herzen - also eigentlich nur bei mir so bekannt. Jedenfalls grün, alt und auf dem Friedhof sogar geheimnisvoll.

Der Bebauung nach zu urteilen, vermute ich mal, dass sich in Zeiten der Frühindustrialisierung hier „reich" und „nicht so reich" auf der Straße begegnet sind. Ich glaube, auch heute noch ist der Tag der Arbeit hier eher ein willkommener Feiertag zum Chillen und Grillen. Mit sonderlich vielen Demonstranten würde ich auch ohne Corona jetzt nicht so rechnen.

Unterwegs Richtung Bendahler Straße höre ich durch ein gekipptes Fenster ein Kind rufen: „Mama, warum ist denn heute eigentlich Feiertag?" „Ja was weiß denn ich", erwidert Mama, „1. Mai, April vorbei! Letzte Nacht hätte man Party machen können, wenn diese blöde Kontaktsperre nicht wäre!" Darauf folgt Stille. Ich versuche mir vorzustellen, wie dieses Kind noch länger darüber nachdenkt, warum man feiert, wenn ein Monat zu Ende geht.

Arbeitsrechte, Grundrechte, Menschenrechte, Freiheit - für manche eine Selbstverständlichkeit, für andere ein täglicher Kampf, für uns mittlerweile sicher auch ein schönes Stück Folklore, an dem man sich einmal im Jahr beteiligt, um zu erinnern und zu mahnen. Und ausgerechnet jetzt kann ich niemanden hier darauf ansprechen. Dabei würde ich so gerne wissen, was vorgeht hinter diesen hunderten Fenstern. Revolution oder Resignation?

Auf meinem Weg durch die Wolkenburg bin ich mir sicher: Letztere. Aber wer weiß?! Vielleicht sitzt ja gerade hier und gerade jetzt jemand an einer philosophischen Abhandlung über eine gerechtere Welt. Ich wechsel' die Straßenseite, um an den Häusern hinaufschauen zu können. Gardinen, Jalousien, Vorhänge - puh! Wenn Menschen sich dermaßen abschotten, obwohl man bei ihnen gar nicht reingucken kann, dann ist das auch ein Signal. Und zwar keines, das die Völker hören sollen.

Aber hinter dem ruhigen, feiertäglichen Aldi-Gelände ist das Straßenbild doch wieder gewohnter. Mir fällt ein alter VW Bulli ins Auge, der mehr 1.-Mai-Gefühl auslöst als alles bisherige heute Mittag. Beschäftigen die Menschen sich hier in der Südstadt mit solch einem Tag? Nehmen sie an einer Online-Demo teil? Oder am Live-Stream einer Kundgebung? Am „Tag der Arbeit"-Poetry Slam? Oder schaut sich vielleicht sogar irgendein Anwohner oder eine Anwohnerin am Ende den Auto-Korso in Herne an? Ich weiß es nicht, und es fängt an, mich ernsthaft zu stören.

Seit sieben Wochen sind wir nun alle voneinander isoliert. Und ich habe ein echtes Bedürfnis, einem echten Gegenüber Fragen zu stellen.

Haben Sie irgendeinen Bezug zum 1. Mai? Sie leben schon seit den 70ern hier? Wie war das denn zu Zeiten der großen Arbeitskämpfe? War das hier ein Thema? Hatte man betroffene Nachbarn? Hatte man überhaupt so was wie Nachbarschaft?

Stattdessen kann ich nur spekulieren und vermuten und mal am Telefon quatschen - boah, ich glaube, ich verlerne komplett den direkten persönlichen Austausch, wenn das so weitergeht.

So still wie es um mich rum ist, so still und nachdenklich bin ich, als ich mich langsam auf den Rückweg mache.

Fotos: Jörg Degenkolb-Degerli 

 

 

+++ Projekt-Ticker +++ Zur Zeit übt die börse sich im Digitalen.

Und in Wettbewerben:

Engels - Bandfestival.

Engels- Essay.

Engels - Slam.

 

 

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Veröffentlicht am 01.05.2020

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