Blog Gemeinsam divers

Gemeinsam divers – Creative Writing – Sing'n'Songwriting – Workshops

Danielle Bouchet: Weitere Texte aus der Schreibwerkstatt

Sind wir einfach zu bequem oder fehlen uns die Ideen? (Rondell)

Sind wir einfach zu bequem oder fehlen uns die Ideen?

Auf der Couch von einer anderen, besseren Welt träumen

Friede, Freude … und wie geht es weiter?

Abwarten und Tee trinken!

Sind wir einfach zu bequem oder fehlen uns die Ideen?

Tonton Tonio

Tonton Tonio, der 1955 die ältere Schwester meiner Mutter geheiratet hatte, war ein knochiger Mann mit Schnäuzer, einer spanischen Zigarette in der Hand, stets gekleidet mit einem gut geschnittenen Streifenanzug und mit dünnen Lackschuhen an den Füßen. Er war der erste Ausländer in meiner urfranzösischen, bodenständigen Bauernfamilie und galt ein Leben lang als Exzentriker und Außenseiter.

Tonton Tonio hatte sich in Frankreich – im eigentlichen wie im übertragenen Sinne des Wortes – nie so richtig akklimatisiert. Die französische Sprache und die französische Mentalität lagen ihm nicht. Bis zu seinem Lebensende sprach er nur gebrochenes Französisch mit einem starken spanischen Akzent. Immer wieder schimpfte er über das kalte, feuchte Klima und fror ständig. „Que frio, que frio!“, hörten wir ihn (WW) klagen. Oft erzählte er von seiner Heimat, dem Bürgerkrieg, Franco, der Hitze in der spanischen Hauptstadt, den Tapas-Bars, von den stolzen Spanierinnen. Frankreich war für ihn nur eine notwendige, familienbedingte Zwischenstation. Spanien war sein Eldorado. Dort war der Himmel blauer, die Sonne strahlender, der Wein würziger, die Frauen schöner... Sein Bild der Heimat wurde mit der Zeit immer verklärter.

Meine Onkel und Tanten nahmen es ihm teilweise ziemlich übel, dass er in hohen Tönen von seiner Heimat Spanien sprach und sich in Frankreich nicht richtig zurechtfand. Für die konservative Familie brachte Tonio zu viel Fremdes mit, was man nicht verstand.

Selbst ich verstand damals sein Anderssein und sein Andersdenken nicht so richtig – bis ich selbst nach Deutschland zog. Ich erkannte vor allem in den ersten Jahren, was es heißt, sich im Ausland integrieren und dort Fuß fassen zu wollen, ohne seine eigene Identität zu verlieren.

Oft musste ich an Tonton Tonio denken und sprach im Stillen mit ihm: „Tja Tonton, ich kann Dich gut verstehen, es war gar nicht leicht für Dich, der erste Ausländer in der Familie zu sein und als Spanier akzeptiert zu werden. Ich bereue, damals nicht mehr über dein Land, deine Jugend in Madrid und die Geschichte deines Landes erfahren zu haben. Wie ignorant war ich, Frankreich für den Nabel der Welt zu halten!“

Der Charme der oberen Südstadt – eine grüne Oase

Im Frühjahr leuchtet die Blumenwiese auf dem Flügelhügel an der Uni in Rot, Blau, Weiß, Orange, Pink, Gelb, Rosa … Primeln, Narzissen, Tulpen, Hyazinthen. „Blumen schenken Lebensfreude“ sagte meine weise Oma Joséphine.

Im Sommer summen unzählige Hummeln und Bienen in den hohen Linden der Kronprinzenallee. Ich bleibe unter einem Baum stehen, schließe die Augen und lasse mich vom Duft der Lindenblüten und vom beruhigenden Summen der Insekten betören.

In den gepflegten Vorgärten flattern bunte Schmetterlinge unbeschwert von Blume zu Blume. Vögel zwitschern: Meisen, Rotkehlchen, Buchfinken, Gimpel, Amseln. Falken und Bussarde schweben durch die Lüfte und jagen sich gegenseitig. Putzige Eichhörnchen springen wie Akrobaten in einem Zirkus spielend leicht von Ast zu Ast. Tagsüber höre ich öfters das Klopfen eines Spechts oder den Schrei eines Milans und nachts das unheimliche Rufen eines Kauzes.

Im Frühherbst leuchten die Bäume in Gold, Gelb, Orange, Rot, bevor sie sich später entkleiden und einen dicken Teppich aus Laub auf dem Boden hinterlassen.

Am Himmel folge ich gebannt mit den Augen Hunderten kreischender, elegant fliegender Kraniche, die instinktiv Richtung Süden ziehen, um dem kalten deutschen Winter zu entfliehen.

Ich bleibe hier unten in meiner Wohnung mit Aussicht auf Uni und Tal. Ich bin angekommen und muss nicht weiter ziehen.

Ich wohne schon im Süden – im Süden der Stadt, in einem ruhigen, grünen Viertel am Waldrand, umgeben von freundlichen Nachbarn.

Ich bin zufrieden und glücklich.

Ruhe in Frieden

Bei jedem Schritt knirschte der Kies unter ihren Füßen, aber wen würde es stören? Sie würde ganz bestimmt keinen Klagelaut hören. Sie ging gemütlich durch die Alleen und genoss die milde Frühlingsluft. Die kräftigen Bäume zeigten stolz ihr junges Grün, die Vögel zwitscherten. Sie schaute in das helle Blau des Himmels.

An diesem Ort fand Nathalie Ruhe und Frieden.

Eines Tages würde sie auch da ruhen, dafür hatte sie schon entsprechend gesorgt. Sie war zwar erst Mitte Fünfzig und gesund, aber sie wollte sich ihre letzte Ruhestätte unter hohen Bäumen mitten in der Natur sichern. Es war ihr letzter Wunsch, auf dem Unterbarmer Friedhof beerdigt zu werden. Diesen Friedhof am Hang mitten in Wuppertal mochte sie besonders gerne, er wurde 1822 angelegt, dort ruhten viele prominente Familien der Stadt wie die Vorfahren von Friedrich Engels, die Familie Herberts oder Ibach. Sie selbst wollte kein Prunkdenkmal, sie wünschte sich nur ein ruhiges Plätzchen, egal wo. Mit ihren Bäumen, Pflanzen, Blumen, Vögeln, Insekten waren deutsche Friedhöfe so … lebendig und versöhnten sie mit dem Tod. Nathalie war zwar Französin, wollte aber auf keinen Fall in ihrem französischen Heimatdorf begraben werden. Auf französischen Friedhöfen waren nur Tod, Kälte und Traurigkeit zu spüren: Alles war in Grautönen aus Marmor, Granit oder Beton, nur künstliche Blumen konnten sozusagen überleben.

Als sie ihren Gedanken nachhing und ihren Blick über die Gräber schweifen ließ, erregte plötzlich etwas ihre Aufmerksamkeit. Lag dort weiter vorne vor einem Grab nicht etwas … Unförmiges? Sie war irritiert. Von da, wo sie stand, konnte sie noch nicht genau erkennen, was es war, aber ihre Beine führten sie unwillkürlich zu der Stelle, wo sie meinte, etwas gesehen zu haben, was nicht dahin gehörte. Als sie langsam näher kam, dachte Nathalie, es sei nur ein Bündel dahin geworfener Lumpen, oder nicht? Bei näherem Herantreten sah sie, was es war – und erschrak.

Eine junge Frau lag am Rand der Allee, auf dem Rücken, die langen blonden Haare um ihren Kopf ausgebreitet, die Augen starrten unbestimmt in den blauen Himmel. Sie sah aus wie ein Engel. Sie hielt einen Rosenkranz in der rechten, ausgestreckten Hand. Die linke Hand lag auf ihrem Schoß und umklammerte eine Bibel. Nathalie wollte sie schon berühren und wachrütteln, und erstarrte in ihrer Bewegung, als sie auf der Brust der jungen Frau einen großen roten Fleck bemerkte. Tot, sie war tot. Ermordet, daran lag gar kein Zweifel. Nathalie sah sich um und entdeckte keine – lebendige – Menschenseele. Leider konnte man die einzigen Zeugen des Mordes nicht befragen, sie lagen stumm in ihren Gräbern und schwiegen für immer.

Texte und Podcasts vom 30.11.2022

Veröffentlicht am 16.02.2023

Uns interessiert Ihre Meinung:

Bitte den Code eingeben*
Bitte verwenden Sie Kleinbuchstaben und Ziffern für den Code.

* Pflichtangaben

Weitersagen: