Blog Essaywettbewerb - Friedrich Engels | Kulturrucksack

Helga Gassmann - eingereicht am 20.5.2020

Über Engels Geschichtsauffassung und deren Universalität

Im Juni 2012 besuchte ich mit meinem Mann für einige Tage London. Die Sehenswürdigkeiten der Innenstadt waren grandios und verbrauchten Stunde um Stunde. Erst am letzten Tag vor der Abreise verließen wir die Innenstadt und machten wir uns auf, um die Straße und das Haus zu suchen, wo Engels von 1870 bis 1894/951 wohnte: 122, Regent's Park Road, London N. W. Eine Straße mit traditioneller Bebauung und kleinen Vorgärten. Das Wohnhaus Nr. 122 verschlossen, ohne Hinweis auf eine mögliche Besichtigung. Vis-à-vis unübersehbar ein Pub mit Historie und ebensolchem Innenleben. Wir zogen es vor, draußen zu sitzen, den Anlass unseres Besuches im Blick. Es wurde eine angenehme Entschädigung für den verwehrten Eintritt in vergangene Geschichte.

Was war geblieben vom Wissen aus jugendlichen Zeiten über Engels? Mein Mann, ein in dieser Sache neutraler Wuppertaler. Wegen meines östlichen Bildungsortes fernab von Wuppertal traf das auf mich weniger zu. Mein Mann kannte sich aus in der Industriekultur seiner Stadt, in der die Geschichte mit Engels durch die Baumwollspinnerei Ermen & Engels ihren Anfang nahm. Sein Focus: Technikgeschichte. Engels Briefe aus Wuppertal hatte er nie gelesen. Ich bis dato auch nicht. Wir genossen die unmittelbare Zeit. In der Nähe gab es eine weitläufige Wiese mit kleiner Anhöhe, von der wir über die Stadt sehen konnten. Ob es diesen Ort so schon gegeben haben mag, als Engels sich entschied, mit Lizzie Burns unweit davon gemeinsam zu leben?

1870 beendete Engels seine Teilhaberschaft an allen Textilbetrieben. Er ließ sich auszahlen, um frei zu sein von beruflichen und finanziellen Zwängen. 25 Jahre lagen noch vor ihm: Als Privatier mit Vermögen und als Junggeselle (bis 1878). Er war bürgerlicher Liberaler und Sozialist in einer Person, genialer Artikelschreiber, Korrespondent und Briefeschreiber. Aus dem Industriellen wurde ein Theoretiker und der Geschäftsführer der ‚Partei Marx'.2

In diesem Mann schlug zeitlebens ein Herz für die Industriearbeiter und deren Familien - mit dem ganzen Programm als Beteiligter und Unterstützer der aufkommenden europäischen Arbeiterbewegung. Ein Dankschreiben an den Nationalrat der französischen Arbeiterpartei für dessen Glückwünsche zu seinem 70. Geburtstag 1890 überrascht mit einem Pathos, das heute nicht mehr als authentisch gewertet würde: eher überzogen, unglaubhaft: Seien Sie versichert, was mir an Leben und Kraft bleibt, wird im Kampf für die proletarische Sache verausgabt werden. Möge mir beschieden sein, in dem Augenblick zu sterben, da ich nicht mehr zum Kampf tauge.3 Solche Emotionen für die proletarische Sache sind heute weniger üblich; sie sind der Verzeitlichung erlegen. Aber wir sollten nachdenken, warum man das eventuell bedauern könnte. Ließe sich vorstellen, dass heute ein hochdotierter CEO aus dem hündischen Commerc (Engels) ausstiege und sich mit aller Kraft und ganzer Seele der Sache der untersten Schicht der Gesellschaft widmete? So Marx im Kommunistischen Manifest vergleichend für Proletariat; heute transformiert: Unterschicht, bildungsferne Schicht, Prekariat oder service class.

Das alles sollte nicht schon auf dieser Seite gesagt sein. Aber es passiert einfach, wenn man an Engels denkt. Ein Wort ergibt das andere... Dieser Friedrich Engels ist noch nachhaltig genug in der Welt, so dass es sich lohnen kann, ihn mit einer zukunftsweisenden Behauptung in Verbindung zu bringen:

Es sollte unstrittig sein, dass in der Geschichtssauffassung von Engels universelle und damit praktikable, ausbaufähige Impulse für gesellschaftliche Veränderungen zu finden sind, die den Fortgang der Geschichte noch im 21. Jahrhundert für das wirkliche Leben befördern können. Die Reflexion auf Engels in dieser Sache ist keinesfalls unangebracht, weil die maßgeblichen Vertreter des Liberalismus und dessen Praktiker seit 1990 ihre Voraussagen zum Erhalt von wachsender Kontinuität eines guten Lebens nicht einlösen können. Selbst die traditionelle, uneingeschränkte Zuversicht dafür kam ihnen abhanden.

Jahrzehnte stehen sie theoretisch in einer Reihe mit den sog. Marxisten, die es nicht vermochten, dass sich ihre Ideologie in die Wirklichkeit transformieren ließ bzw. die Wirklichkeit sich ihrer Theorie nicht anpassen wollte.

Was Engels in zwei Briefen 1890 und 18944 allgemein über Geschichte schrieb, war eine Fassung, die sich ergab aus seinen Studien und in Reflexion aus jahrzehntelanger Wahrnehmung der ökonomischen und politischen Bewegungen und Interessen. Jenen Bewegungen und Interessen, die mit seinem Begriff von Geschichte verbunden sind. In den Briefen umreißt er in wenigen Worten eine allgemeine Erklärung für die widerspruchsvollen und zufallsschwangeren Wege um die Erfolge oder Niederlagen menschlicher Anstrengungen, das Leben zu verbessern. Er beschrieb das Innere und Äußere des Funktionalen und des Nichtfunktionalen von gesellschaftlichen Bewegungen, machte dadurch Versuche, Irrtümer, Hoffnungen und Illusionen nachvollziehbar. Eine hinreichende Datenmenge war gegeben, um über Geschichte in der Abstraktion nachzudenken.

Geschichte ist kein Synonym für Erzählung. Geschichte ist der Spiegel, in dessen Tiefen wir auf ambivalent dokumentiertes Leben und Wirken unserer Spezies blicken können. Im Spiegel können wir uns sehen, wie wir uns in unserem kurzen Leben bewegen, was wir alles tun oder nicht tun in unserer unbedeutenden Verweilzeit auf Erden im Vergleich zu unseren versunkenen Taten. Engels hat mit seinem Lebenswerk eine neue Worthülse für Geschichte randvoll besetzt - als Vertreter einer materialistischen Geschichtsauffassung. Deren Indiz: Die ökonomische Notwendigkeit als Resultat von Geschichte setzt sich durch in letzter Instanz anhand der Wechselwirkungen ihrer eigenen Zufälligkeit mit allen Zufälligkeiten des menschlichen Handelns und der menschlichen Existenz überhaupt.

Inzwischen sollte zu bedenken sein, dass sich die historisch-kapitalistische Ökonomie in ihrer Absolutheit langsam verzeitlichen könnte. Wir hätten eine Produktionsweise nötig, die die vorhandenen relativen Möglichkeiten beherrscht. So gelänge es besser, dass wir eine solidarische Geschichte machen könnten für die noch fehlende praktische Erfahrung, wie es für alle gut ist zu leben. Diese Perspektive betrifft nicht die Umsetzung einer abstrakten Theorie nach Hegelscher Manier wie sie Marx 1850 fasste, von dessen Idealismus geprägt: Dieser Sozialismus ist die Permanenzerklärung der Revolution, die Klassendiktatur des Proletariats als notwendiger Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt, zur Abschaffung sämtlicher Produktionsverhältnisse, worauf sie beruhen, zur Abschaffung sämtlicher gesellschaftlichen Beziehungen, die diesen Produktionsverhältnissen entsprechen, zur Umwälzung sämtlicher Ideen, die aus diesen gesellschaftlichen Beziehungen hervorgehen. Der Raum dieser Darstellung erlaubt nicht, diesen Gegenstand weiter auszuführen.5

Marx schreibt den letzen Satz nach einer freien Zeile. Wo war er angekommen? Auf dem Gipfel einer Abstraktion. Höher war nicht aufzusteigen... Von diesen Hängen ging es rasant abwärts. Was uns nicht von neuen ideellen Gipfeln abhält.

Nach mehr als 40 Jahren hatte Engels nicht die doktrinäre Vereinfachung von Geschichte in diesen Briefen zum Thema. Geschichte bedarf der Betrachtung von Zusammenhängen. Bei Borgius entschuldigte er sich am Ende des Briefes. Er möge nicht alles auf die Goldwaage legen, sondern den Zusammenhang im Auge behalten. Er habe nicht die Zeit für eine exakte Ausarbeitung wie es für Öffentliches angebracht wäre. Wir müssen Engels daraus keinen Vorwurf machen. Seine ganzheitliche Betrachtung hält der Verzeitlichung stand. Am Ende des Briefes an Bloch entschuldigt er sich für seine Schachtelsätze, weil sie ihm der Kürze halber aus der Feder geflossen seien. Hier dieser Satz, dessen Aussage eher wir immer verschachtelt haben: in letzter Instanz [ist das] bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase... Und diesen Vorwurf kann ich manchem der neueren 'Marxisten' nicht ersparen, und es ist da dann auch wunderbares Zeug geleistet worden.6

Die neueren Liberalisten leisten auch einigermaßen dauerhaft wunderbares Zeug. Ihre Ideale von wirtschaftlicher, politischer und geistiger Freiheit sorgen für zunehmende Ungleichheit und Armut in jeglicher Ausprägung. Geschichte ist ein konfliktreicher Prozess für alle Ismen. Jeder Geschichtsprozess bietet einigermaßen verlässliche Anhaltspunkte im Chaos seiner Möglichkeiten aus der Menge von Zufällen, der Konstitution vieler Einzelwillen oder vieler Willenskonglomerate, die alle unser Tun wechselseitig antreiben oder verhindern. Dass in letzter Instanz äußere, ökonomische Umstände - entweder eigene persönliche oder die einer besonderen Gruppe oder die allgemein-gesellschaftlichen - uns im Willen und/oder im Wissen um die Not oder eines Vorteils wegen nach Veränderung treiben.

Die These: Die Möglichkeit auf Veränderungen im gesellschaftlichen Zusammenleben können wir besonders dann nutzen, wenn es erkennbare Schnittpunkte zwischen einzelnen (individuellen, gruppenspezifischen) und den gesellschaftlichen [die Art und Weise, worin die Menschen einer bestimmten Gesellschaft ihren Lebensunterhalt produzieren und die Produkte untereinander austauschen (soweit Teilung der Arbeit besteht.7] ökonomischen Umständen gibt. Dabei ist es unerheblich, wer zuerst diese Schnittpunkte oder einen Schnittpunkt erfasst und für wen oder für welchen Zweck dieser oder jene Schnittpunkt dienlich oder nicht dienlich wäre. Hier liegt am ehesten das Potential fördernder oder hemmender Konflikte für eine mögliche Veränderung.

Das Ergebnis: Fortschritt oder Rückschritt. Bestenfalls auch Stagnation, sei sie nicht vermeidbar oder auch gewollt. Die Zeit wird zeigen, welches Resultat Bestand haben konnte.

Das dynamische Geschichtsverständnis von Engels kann hilfreich sein, weil uns das 21. Jahrhundert endliche planetare Grenzen für den Fortgang unserer Lebenswirklichkeit aufzeigt. Die ökonomischen Umstände müssten neu und weiter gefasst werden. Der zeitliche Ansatz von letzter Instanz könnte obsolet werden. Es braucht eine neue Ökonomie, die den sozialen und ökologischen Umständen verpflichtet ist, die diese beiden Aspekte integrierend aufnimmt. Wird diese Ökonomie als unmöglich erachtet, kann ein Zeitmoment wie das von der letzten Instanz gecancelt werden, weil es für eine letzte Instanz zu spät werden könnte. Das gegenwärtig in der Welt dominierende Konzept für gesellschaftliche Bewegung wird von einer apokalyptischen Tendenz bedroht, durch die wir als Leitfossil des Anthropozäns8 enden könnten. Die Erde kann weiter existieren in der Neutralität ihres Seins, bar jeder menschlichen Dokumentation.

1990 wurde bereits einmal ein Ende der Geschichte verkündet. Es war aber lediglich das Ende einer Geschichtsauffassung, die von dem Dogma nach dem besten aller Systeme beherrscht wurde. Nachdem eines dieser vermeintlichen Systeme im gnadenfreien Spiegel der Geschichte versank; Nebenwirkungen an der Oberfläche dauern noch an. Eine Ursache: Die Überlebenskunst des Hegelschen Geschichtsverständnisses. Das Jahr 1990 galt als Zeitpunkt für einen Neuaufbruch, befreit von diktatorischer Geschichte. Der Sozialismus als Geist des Kommunismus mit seiner besten aller Ideologien und seiner besten aller Klassen war gescheitert. Indes bleibt festzustellen, dass das Gesellschaftskonzept für die Welt nach 1990 ebenfalls einseitige Polarisation verkörpert: Das schon immer beste aller Systeme: Das System des Liberalismus, seine systemtragenden Strukturen und Schichten; die Geister der Liberalität und der Freiheit des Marktes - mit alleiniger Kompetenz zum Besten der Menschen in einer globalen Welt zu wirken.

Wird Geschichte als die universelle Bewegung menschlicher Gesellschaft wahrgenommen, braucht es keine Systeme mehr mit unterschiedlichen ökonomischen und politischen Grundlagen. Es braucht eine neue Ökonomie und eine neue Demokratie, in der sich alle sozialen Schichten wiederfinden können im unikalen Projekt der Menschheit: Überleben mit Würde in der Wirklichkeit. Ein möglicher Denkanstoß für einen modernen Liberalismus wäre vorhanden: Eine plausible Interpretation lautet, dass soziale Ungleichheiten nur dann vertretbar sind, wenn sie im Interesse aller und namentlich der benachteiligten sozialen Gruppen liegen. Es gilt also die Grundrechte und materiellen Vorteile, die allen zur Verfügung stehen, soweit wie möglich auszudehnen, sofern dies denen zukommt, die am wenigsten Rechte und Lebenschancen haben.9

Wenn wir beständig Bilder und Tatsachen von unerfreulicher Geschichte und gesellschaftlichen Misserfolgen vor uns sehen, dann deshalb, weil sie den Konflikten und der Ressourcenverschwendung geschuldet sind, die durch das Festhalten an der uneffektiven Konkurrenz um eine mechanistische Systemfrage bedingt sind. Und weil die dominierenden ökonomischen Umstände durch einen scheinbar angeborenen Zwang ersatzlos auf Wachstum und Maximalprofit setzten müssen - unter dem Damoklesschwert des eigenen Untergangs. Genau gegen diese Zwanghaftigkeit scheint das Ideal des herkömmlichen Liberalismus von Handlungsfreiheit kein Gegenpol zu sein; es bleibt ohne signifikanten Einfluss. Für den Fortgang einer Geschichte als universelle Angelegenheit des Lebensprozesses unserer menschlichen Spezies scheint es eine entscheidende Blockade zu sein. Nach Engels: Blockaden können wir selbst beheben.

Die Sicht auf den universellen Charakter der Produktion und Reproduktion wird verstellt durch die Annahme von der alternativlosen Konkurrenz konträrer Gesellschaftssysteme und dem objektiven Zwang des Kapitals nach Wachstum und Maximalprofit für sein Überleben. Wir haben zwar das Kapital erfunden, aber es geht nicht um das Überleben des Kapitals, sondern um den Erhalt unserer Lebendigkeit. Daran gekoppelt ist der Erhalt der Diversität der Natur und der Stoffkreisläufe für Wasser, Luft und Ackerboden.

Engels als Prophet in Sachen der Voraussage von indifferenten Resultaten für Geschichte? Propheten, Prophezeiungen und Geschichte schließen sich aus. Marx wurde zum Propheten erhoben und seine Theorie zum Glaubensbekenntnis. Das sollten wir Engels ersparen, der weiß Gott kein Metaphysiker war. Marx zwar auch nicht, aber er konnte sich nicht vollständig von der Hegelschen Philosophie lösen. Eine verständliche Anfälligkeit für Hegel besteht immer noch. Wenn wir unsere Ansätze für neue gesellschaftliche Visionen betrachten, lohnte darüber eine Diskussion. Es scheint, als ob wir die Suche nach dem Stein des Weisen nicht aufgeben und an den durchaus vorhandenen Vorteilen abstrakter Geschichte festhalten. Es ist erbaulich, für Geschichte immer wieder neue Interpretationen zu erfinden. Eine aktuelle wäre die Proklamierung des Digitalen Zeitalters als neue Gesellschaftsformation.10

Theoretische systemische Betrachtungen sind bloße, ideologische Interpretation. Wir unterliegen diesen Interpretationen, die von einem Standpunkt des Wissens um das Beste aller ökonomischen und politischen Systeme getragen waren und es noch sind. Könnte man versuchen, die ideologische Brille abzunehmen wäre es möglich, die jeweils vorhandene Lebenswirklichkeit aus neutraler Warte zu betrachten: Als das was sie ist: Universelles Dasein auf der Erde. Ob auch für das Universum, ist ungeklärt. Diese Klärung sollte nicht unsere vordringliche Aufgabe sein.

Engels hat einen Ansatzpunkt, wie man in dieses Umdenken ohne Ideologie gelangen könnte: Das größte Hindernis zum richtigen Verständnis ist in Deutschland die unverantwortliche Vernachlässigung in der Literatur der ökonomischen Geschichte. Es ist so schwer, nicht nur sich die auf der Schule eingepaukten Geschichtsvorstellungen abzugewöhnen, sondern noch mehr, das Material zusammenzutrommeln, das dazu nötig ist.11

Die hiesigen Sozialwissenschaften meiden das Terrain der akribischen ökonomischen Recherche und eine kritische Reflexion auf das Finanzkapital. Auf solcher Basis fußen dann absolut engagierte und wirkliche großartige Entwürfe für eine Welt mit Zukunft.12 Obgleich von guten, ethisch-politischen Absichten getragen, meiden sie die zu große Nähe zur Achse der ökonomischen Entwicklung.13 Sie schweben quasi idealisiert von großen moralischen Ansprüchen wie vor langer Zeit als Geist über den Wassern, willens, sich dort zu sammeln, um in die Wirklichkeit dringen zu können: Trickle down von einheitlichem Ziel und gemeinsamen Ambitionen. Die Beurteilung dieser bis heute anhaltenden Misere hat Piketty drastisch für französische Verhältnisse beschrieben.14

Nach Engels ist Veränderung kein Ergebnis der Wirkung einer singulären, abstrakten Vernunft. Sie ist auch nicht bedingt durch die Zuschreibung von pluraler abstrakter Vernunft einer zu Höherem ermächtigten Klasse oder Schicht aufgrund deren Stellung im Prozess der Produktion und Reproduktion. Diese alte Klippe umgehend, weil derartige Gesellschaftsmodelle für Veränderung politisch und sozialpolitisch nicht tragen, wird Veränderung gesellschaftsübergreifend als Zivilisationswende gedacht: als moralische und kulturelle Revolution. Technologien, Geschäftemodellen und der Politik wird die Berechtigung in dieser Wende nicht abgesprochen. Eine Fähigkeit soll unerlässlich sein:
Eine transformative Literacy bzw. die Zukunftskunst [in] vier Dimensionen [technologisch, ökonomisch, institutionell, kulturell] ..., um komplexe gesellschaftliche Transformationsprozesse adäquat zu verstehen und sich aktiv in sie ein zubringen.15
Das heutige Wirtschaftsmodell sei zwar für dieses humanitäre Ziel weiterzuentwickeln. Aber neben den grundsätzlich möglichen technologischen und ökonomischen Möglichkeiten bedarf es einer kulturellen Leitidee, einer Vision, anhand derer weltweit ein gutes Leben für alle Menschen auch innerhalb planetarer Leitplanken organisiert werden kann.

Das Fazit dieser Vision: am Ende verändern Ideen und neue Wertvorstellungen die Welt.16 Das ist ein ziemlich anderes Modell von Geschichte, das Engels beschrieb. In dieser Version dreht sich alles um eine Achse der ideellen Entwicklung.

Vielleicht ist es nicht so tragisch, wenn das Bild von beiden Achsen nicht in ihrer Polarisation gesehen wird, sondern in komplexer Wechselbeziehung - quasi in der Fortschreibung der Engels´schen Kräfteparallelogramme.17 Und es wäre zu überlegen, ob der Begriff der Zivilisationswende dem entspräche, wenn Engels von der Möglichkeit spricht, dass Geschichte auch mit Gesamtwillen nach einem Gesamtplan (eine mögliche neue Achse neben der ökonomischen) gemacht werden könnte. Er vermutet, dass Gesamtplan und Gesamtwille, je länger die betrachtende Periode und je größer das so behandelte Gebiet ist, daß diese Achse der Achse der ökonomischen Entwicklung um so mehr annähernd parallel läuft.18 Der Gedanke eines Gesamtwillens und eines Gesamtplanes ist seit 2016 in der Welt in der Fassung eines Weltzukunftsvertrages, der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung.19

Ob Engels unser ökologisches Dilemma verwundern würde? Vielleicht kam Marx dieser Entwicklung nahe, als er schrieb, dass wir nicht Eigentümer der Erde seien, sondern nur ihre Besitzer und Nutznießer. Wir hätten sie deshalb als boni patres familias <gute Familienväter> den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.20

Wir haben den Zeitpunkt für das Ziel der Großen Transformation21 in die Zukunft verlegt, weil wir um einen zähen und nur spekulativ besetzten Prozess wissen. Derweil nutzen wir die Zeit für Innovatives zur Veränderung der vorhandenen konservativen Werte. Engels formuliert das so: Hat die Gesellschaft ein technisches Bedürfnis, so hilft das der Wissenschaft mehr voran als zehn Universitäten.22 Er fragte nicht, was geschähe, wenn die Gesellschaft ein soziales Bedürfnis hätte. Diese Frage stellte sich ihm offenbar nicht. Er lebte im Zeitalter der Industriellen Revolution. Bloch gestand er am Briefende ein, dass er und Marx aus taktischem Interesse einer Verteidigung gegenüber ihren Kritikern der ökonomischen Seite mehr Gewicht beimaßen als ihr tatsächlich zukomme.

Wir fragen nach der Umsetzung von sozialen Bedürfnissen, aber die Wissenschaft regiert nicht wie bei einem technischen Bedürfnis. In dieser Beziehung scheint nur die industrielle Zeitrechnung zu gelten. Für die Umsetzung ökologischer Bedürfnisse scheint Engels Fragestellung zu passen. Was wären die Gründe für diese Diskrepanz?

Wir leben in der Zeit der Vierten Industriellen Revolution (4.0). Könnte gesagt werden: Die Industrielle Revolution 4.0 sei ein auslaufendes Entwicklungsmodell und ließe sich durch die Soziale Revolution 4.0 ersetzen? Wenn die Meinung vertreten würde, dass es bisher keine nennenswerte soziale Entwicklung global gegeben hätte, dann eben zurück auf Anfang: die Umsetzung der Sozialen Revolution 1.0, ergänzt von einer Ökologischen Revolution 1.0.

Wir könnten eine Achse der Entwicklung bedenken, ohne Engels Widerspruch herauszufordern: Die Achse der sozialen Entwicklung. Deren harter Kern: Gesamtplan und Gesamtwillen. Würden wir dafür an unseren Universitäten Inhalte für Studienfächer reformieren?

In Debatten und Büchern analysieren wir Möglichkeiten auf Zukunft. Wir gehen davon aus, dass zumindest ein allgemeines Interesse an der Zukunft als integrierendes Potential für Zusammenarbeit vorhanden ist. Werden diese Debatten und Bücher die Entscheider für Ökonomie aufhorchen lassen wegen der Relevanz für ihre Interessen an den ökonomischen Umständen? Sie schreiben eigene Texte und debattieren in bestens sortierten Elfenbeintürmen.

In einem speziellen Elfenbeinturm in Davos werden jährlich die prognostischen Themen der Entscheider und Akteure für die ökonomische Achse der Weltentwicklung besprochen. Es gab neue Akzente zum 50. WEF 2020: In einer kohärenten und nachhaltigen Welt müsse dem Stakeholder-Kapitalismus mehr konkrete Bedeutung eingeräumt werden. Fragen zu den Bereichen Ökologie, Wirtschaft, Technologie, Gesellschaft, Geopolitik und Industrie standen auf der Agenda.23 Ein ziemlich unsystematisches Tableau. Indes: Der Pudding24 ist heißer geworden als es die Teilnehmer für möglich hielten.

2070 ist vielleicht eine nächste Teilnehmergeneration bereit, ihre gebotene Verantwortung zum Thema „Soziale Geschichte" mit historisch noch zu vertretendem Zeitrückstand zu übernehmen. Ob für eine weitere Zeitverzögerung bezüglich dieser Wende die Welt noch ein Einsehen hätte? Wer wüsste das heute zu sagen... Momentan wird auf die Zeit als friedlichen Ratgeber gesetzt. Die Geschichte lehrt aber auch, dass durch zu spätes Eingreifen in fehlgeleitetes Handeln ganze Zivilisationen zurückgeworfen oder sogar ausgelöscht wurden. Das Timing der Geschichte sollte nicht unterschätzt werden. Die Reflexion auf unsere Vergangenheit wird zu ungenügend betrieben oder sogar abgelehnt.

Jedenfalls lässt sich Geschichte mit der Geschichtsauffassung von Engels in all ihren Facetten erkennen und handhabbar verstehen. Sie verhindert das Minenfeld der Ideen und Werte zum bestimmenden Moment als letzte Instanz in der Geschichte. Gesellschaftliche Themen konnte Engels ohne die Radikalität eines Marx angehen, die beständig Veranlassung gab, ihn und Marx zu diskreditieren. Heute wissen wir, dass unsere unendlichen Abhängigkeiten und unser unendliches Konfliktpotential endlich werden kann, weil die Produktion und Reproduktion des Lebens auf der Erde Endlichkeit erkennen lässt und dass wir uns deshalb als Untertan der Erde zu beweisen haben.

Wir können Geschichte selbst machen. Wie weit wir in dieser Lebensfrage gekommen sind, das beträfe eine Bestandsaufnahme und die Qualifizierung von Resultaten. Und die Frage, welche Fähigkeiten wir in Geschichte und in Zukunft besäßen. Es wäre interessant, welche Noten Engels uns ins Geschichtsbuch schreiben würde.

Die Autorin

Helga Gassmann

Sie hat ihren Lebensmittelpunkt in Sachsen seit 1950 - mit Zwischenstationen auswärtig für Ausbildung und Berufsausübung, längstens von 2005 bis 2013 in Wuppertal.

 

 

 

Fußnoten:

 1 Engels, 1895, S. 528. (Adresse März 1895: 41, Regent's Park Road, N. W.

2 Vgl. Koenen, 2017, S. 367.

3 Engels, 1890, S. 87.

4 Engels 1890 an Joseph Bloch, Breslau. 1894 an Walther Borgius, Königsberg.

5 Marx, 1850, S. 89f.

6 Engels, 1890, S. 463.

7 Vgl. Engels, 1894, S. 205.

8 Vgl. Gebhardt, 2016.

9 Piketty, 2016, S. 640f.

10 WBGU, 2019, S. 9

11 Engels, 1894, S. 207.

12 Schneidewind, 2018, S. 7.

13 Engels, 1894, S.207.

14 Vgl. Piketty, 2016, S. 53.

15 Schneidewind, 2018, S. 39f.

16 Vgl. Schneidewind, 2018, S. 32-43.

17 Engels, 1890, S. 464.

18 Engels, 1894, S. 206f.

19 Vgl. Vereinte Nationen zu Agenda 2030, 2016.

20 Marx, 1894, S. 784.

21 Vgl. WBGU, 2011.

22 Engels, 1894, S. 205.

23 Davos 2020: World Economic Forum announces the theme, 2020.

24 Engels, 1892, S. 296.

 

Literaturverzeichnis:

Davos 2020: World Economic Forum announces the theme. (2020). Abgerufen am 03. 01. 2020 von https://etradeforall.org/davos-2020-world-economic-forum-announces-the-theme.

Engels, F. (25. 12. 1890). An den Nationalrat der französischen Arbeiterpartei. Abgerufen am 14. 05. 2020 von http://www.mlwerke.de/me/me22/me22_087.htm.

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Engels, F. (1892). Einleitung [zur englischen Ausgabe (1892) der "Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft"]. Abgerufen am 13. 05. 2020 von http://www.mlwerke.de/me/me22/me22_287.htm.

Engels, F. (1894). Brief an W. Borgius in Breslau, 25. Januar 1894. Abgerufen am 17. 03. 2016 von MEW Bd. 39, Dietz Verlag Berlin 1968: http://www.mlwerke.de/me/me39/me39_205.htm.

Engels, F. (11. 03. 1895). An den Vorstand des Deutschen Bildungsvereins für Arbeiter in London. Abgerufen am 15. 05. 2020 von http://www.mlwerke.de/me/me22/me22_528.htm

Gebhardt, H. (2016). Das "Anthropozän" - zur Konjunktur eines Begriffes. Abgerufen am 04. 01. 2018 von https://www.geog.uni-heidelberg.de/md/chemgeo/geog/human/gebhardt_anthropozan.pdf.

Koenen, G. (2017). Die Farbe Rot - Ursprünge und Geschichte des Kommunismus. Verlag C. H. Beck oHG, München.

Marx, K. (1850). Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850. Abgerufen am 20. 12. 2016 von Dietz Verlag Berlin 1960, MEW Bd. 7: http://www.mlwerke.de/me/me07/index.htm.

Piketty, T. (2016). Das Kapital im 21. Jahrhundert. München: Verlag C.H. Beck, 1. Auflage Paperback.

Schneidewind, U. (2018). Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst des gesellschaftlichen Wandels, 3. Auflage 2019. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag GmbH.

Vereinte Nationen zu Agenda 2030. (19. 07. 2016). Abgerufen am 15. 12. 2016 von http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2016/07/2016-07-18-hlpf-new-york-nachhaltigkeit.html.

WBGU. (2011). Welt im Wandel Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. WBGU Berlin.

WBGU Digitales Momentum. (Juni 2019). Abgerufen am 01. 09. 2019 von Politikpapier 10: https://www.wbgu.de/de/publikationen/publikation/pp10-2019.

 

 

Veröffentlicht am 20.05.2020

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