Blog | Essaywettbewerb - Friedrich Engels

Shoka Golsabahi - eingereicht am 19.4.2020

Kollege

Man könnte darüber schreiben wer Engels war, was ihn bewegte, was ihn beschäftigte, dann könnte man bedauern dass die vermeintlich Reichen reicher werden und die Armen ärmer werden. Ich bin aber nicht „man" und dieser Aufsatz soll zeigen, was mich immer an Engels interessierte.

Marx und wohl auch Engels, vielleicht auch Trotzki, den ich am meisten von allen politischen Denkern mag, haben die Gesellschaft studiert. Da die Gesellschaft im Inneren davon zusammen gehalten wird, was man hat und was man nicht hat, haben sie das Kapital studiert. Da man laut Georg Simmel eines Tages nicht mehr Ware gegen Ware tauschte, sondern eine Währung einführte, um übersichtlicher und besser zu wirtschaften, entstanden Probleme, dort wo andere Probleme gelöst wurden.

Man wusste nie ob die eigene Ware der getauschten Ware ebenbürtig ist, die Frage der Fairness stand im Raum und ein Versuch fair zu tauschen war durch die symbolische Währung.

Dass der Bauer, was er selbst erwirtschaftet hat, nicht behält sondern gar kaufen muss, die Tücken der Industriellen Revolution, all das habe ich oft gelesen und auch studiert und auch die persönlichen Angaben zu Marx und Engels, ihrer beider Leben, habe ich gelesen, aber das was ich für den wichtigsten Aspekt ihrer Arbeit erachte, ist ihre Freundschaft, die manchmal durch übertriebene Forderungen auch zur Feindschaft wurde.

Ich denke Freundschaft ist auch das was die Problematik des Kapitals ausmacht. Wenn wir sagen es ist nicht fair, dass X mehr verdient mit seiner Ware, obwohl ich dieselbe Ware anbiete, hat das mit unfairem Wettbewerb, fehlender Kollegialität zu tun. Dieses Wort Kollegialität habe ich deswegen als Titel ausgesucht, denn ich denke, dass was unsere Gesellschaft von innen zerstört ist fehlende Kollegialität, um nicht das komplizierte Wort „Freundschaft" zu bemühen.

Wenn ich aus Solidarität von meinen ererbten Millionen einen Beitrag leiste, dann nicht weil ich nett bin, nicht weil ich gezwungen werde, nicht weil ich angeben will, nicht weil ich Almosen vergeben möchte, sondern weil ich kollegial bin. Wir sind, als Gesellschaft, die Weltgesellschaft, die Gemeinschaft der Welt - wir sitzen alle im selben Boot und treiben alle auf demselben Ozean der Ahnungslosigkeit.

Auch bei Engels findet man viele Stellen, wo er anprangert, nicht zu wissen, wozu das Leben gut sein soll, soll man denn Leben um zu arbeiten, oder arbeiten um zu Leben, was hätte all das für eine Bedeutung, für Mensch und Wirtschaft und meine Existenz im konkreten und metaphorischem Sinne.

Wir sind alle Kollegen, in einer Welt, wo wir hineingeworfen worden sind, wie es Heidegger oder Derrida formuliert haben, die Geworfenheit des Seins. Wir sind alle Kollegen in dieser Geworfenheit, alle suchen wir den Grund, wieso wir auf der Welt sind, und müssen lernen damit umzugehen, dass es zeitlichen Vorsprung gibt bei dieser Geworfenheit des Daseins, denn alles was wir zu Lebzeiten zu tun verdammt sind, ist zu arbeiten, und zu zusehen, wie Menschen die älter sind als wir, sterben und wir verstehen den Tod nicht, und selbst diese Regel, dass nur Ältere sterben, ist nicht richtig.

Ich denke an den Briefwechsel von Marx und Engels, und an die existenziellen Fragen die sie einander schrieben, abgesehen von den Wehklagen über fehlendes Geld und ob der eine dem anderen mit Geldscheinen aushelfen könnte, und wie es denn mit der Liebe stünde.

Es ist Wut, die uns unkollegial werden lässt, nicht die gerechte Wut, dass man wegen gesehener Ungerechtigkeiten in Rage gerät, sondern die ungerechte Wut, wenn man sie so nennen darf, die verzweifelte Wut darüber, dass unser Leben, egal wie wir es zu beherrschen versuchen, an der Zeit scheitern wird, Wut, dass der eine mehr Zeit hat als der andere und ich schlussfolgere dass wir deshalb so handeln wie wir handeln. Mit „handeln" meine ich das, was im deutschen mit „Handel" gemeint ist, das „tun" und der wirtschaftliche Aspekt.

Wir leben in einer Zeit, die es, wie nie zuvor, als charakterliche Stärke ansieht, sich keine Wut anmerken zu lassen, eine Zeit, wo man so tut, als ob alles Bestens ist, und man seinen Ärger nicht auslebt, das verbieten wir uns, dafür betreiben wir einen Handel, der Statements setzt, wir führen Zölle ein, wo sie nicht helfen, und unterlassen Zölle, wo sie helfen könnten. Ich stelle mir vor, die Zeiten, als eine Rosa Luxemburg oder andere Intellektuelle, Wutreden gehalten haben, waren Zeiten der Kollegialität, Zeiten wo Leidgenossen zusammenhielten, gegen den gemeinsamen Feind: die Ohnmacht.

Die einen lässt die Ohnmacht zu Kollegen und Freunden werden, die anderen aber, die grundlos Grausamen unter uns Menschen, lässt sie süchtig nach Kapital werden, und dann paranoid werden, aus Angst zu verarmen. Wir sind heute keine Leidensgenossen mehr, wenn rechte Gruppen auf die Straßen gehen, werden sie mit linken verglichen, während die einen ethnische Säuberungen fordern, wollen die anderen wirtschaftliche Umverteilung, wir sind heute dort, wo man Geschichte nicht mehr versteht, da man sie nicht mehr empfindet.

Engels Texte sind voller Empfindsamkeit, empfindsam gegenüber den Problemen und Schwachstellen unserer Gesellschaft, die offenbar nur die Kleidung gewechselt hat, aber immer noch dieselbe ist. In einer Zeit wo Gewerkschaften ausgehoben werden, oder aber manche Gewerkschaftsbosse, heimlich verbunden mit dem Fabrikbesitzer bzw. der Fabrikbesitzerin ist, in einer Zeit wo Sozialisten und Sozialdemokraten in den Regierungen dafür sorgen, dass Gewerkschaften ausgehungert werden, Urlaubstage reduziert werden, die Arbeitsstunden in den Wochen verlängert werden, in einer solchen Zeit hätte Engels vermutlich ganz anders geschrieben als er es getan hat.

Ich stelle mir vor, er wäre wütender geworden, und ich stelle mir vor, er hätte Marx Briefe mit anderem Inhalt geschrieben, dringlicher, verzweifelter.

Vor kurzem wurde der Stundenlohn angehoben, um einige Euro, die Dankbarkeit sollte groß sein, wenn da nicht die Versicherungspflicht wäre, wenn da nicht Versicherer wären, die einen ablehnen, wenn da nicht die Schufa wäre, wenn da nicht Einträge wären, willkürlicher Art, wenn da nicht Mietverträge wären, die man nicht bekommt, oder wenn dann viel zu kurz, wenn da nicht die Ausweglosigkeit des Freiberufler-Daseins wäre, als Künstler oder Geisteswissenschaftler, und das alles muss man auch noch betiteln mit „freier Journalist", oder „freie Autorin", eine Abkürzung von freiberuflich, ein synonym für unfrei, für geknechtet.

Ich frage mich wie das Engels gefunden hätte, wenn man ihm gesagt hätte, im Jahre 2020, haben wir Corona aber schon viel früher haben wir es geschafft das Wort „frei" synonym werden zu lassen für unfrei.

Man müsste Engels erklären, dass die Grausamen in unserer Gesellschaft es geschafft haben, den Wunsch nach selbstständig geregelten Arbeitszeiten und Arbeitsorten so zu instrumentalisieren, dass es unfrei macht.

Kollegen im Kampf gegen die Ohnmacht, so würde ich uns gerne sehen, aber im Grunde meines Wesens weiß ich, dass Kollegialität ein Hauch von Freundschaft beinhalten muss und ist Freundschaft nicht eines der drei großen Mysterien der Philosophie?

Das erste Mysterium: das Ich, das zweite Mysterium: der Tod und das dritte Mysterium: die Freundschaft. Seitdem der Mensch philosophiert, also sich fragt was es gibt, warum es was gibt, und was dahinter liegt oder darüber, wissen wir nicht viel über das Ich, den Tod oder die Freundschaft, die uns ausmachen, die unsere Gesellschaft ausmachen und die uns zu das werden lassen, was wir sind, Ohnmächtige, getrieben im Kampf, der aussichtslos ist.

Wenn Marx und Engels die Beziehung von Ware, Erzeuger und Abnehmer untersuchten, die Bedeutung der Maschine in der Produktion untersuchten, haben sie Wettbewerb besprochen, einmal weil fehlender Wettbewerb vernichtend sein kann, und einmal weil zu viel Wettbewerb vernichtend sein kann. Und so verhält es sich mit Freundschaft, die der Kollegialität Seele einhaucht, und immer werde ich trübsinnig, wenn ich mich erinnere, welcher Satz des Aristoteles mich schon immer magisch in Richtung Philosophie gezogen hat, der berühmte Satz aus der nikomachischen Ethik, als Aristoteles sagte „meine lieben Freunde, es gibt keine Freunde."

Wären wir aber Freunde, wären wir Freunde in der Kollegialität, würden wir uns einigen können, auf das was ein erstrebenswertes Leben ausmacht, das was Engels auch interessierte, wie würde ein gutes, ein erstrebenswertes, ein uns glücklich machendes Leben aussehen?

Ich stelle mir vor, dass es ein Leben wäre, wo Beruf – Berufung ist, aber wo der Kapitalist darin kein Freibrief sieht, meine vielen Arbeitsstunden als Dummheit zu erachten und sie gegen mich zu benutzen und mich freiberuflich zu nennen, um eine günstige Arbeitskraft zu bekommen. Vielleicht hätte Engels dieser Ansatz gefallen, dass Beruf – Berufung ist, oder aber es ist genau der falsche Weg und man müsste in seinem Leben eine gewisse Zeit einplanen, wo man gezielt einige Jahre Arbeit annimmt, Arbeit, die nichts ist als Arbeit, stupide, sinnlos, nicht erfüllend, nur Kapital bringend, mal qualifiziert, mal unqualifiziert.

Dann wenn man genügend Geld hat, müsste man aufhören, und Leben, als ob auf der einen Seite das Geld und auf der anderen Seite das Leben wäre. Das hätte vielleicht Descartes gefallen, auf der einen Seite das Subjekt, auf der anderen Seite das Objekt, und dazwischen zermalmt, wir - also ich.

Aber genau das können wir Verzweifelte, von der Ohnmacht Getriebene nicht, wir können nicht aufhören zu arbeiten, weil wir denken, dass wir mehr Geld brauchen, für ein besseres, schöneres Leben.

Wie sollten wir auch aufhören zu arbeiten, wie sollten wir wissen, wann es reicht zu arbeiten, wann man genug Geld zur Seite geschaffen hat, wenn doch die Grausamen in unserer Gesellschaft jedes Mal wenn wir uns empor zu strecken versuchen, neue Abgaben wollen, neue Maßnahmen haben, um uns klar zu machen, wer Knecht ist, und wer Herr oder Herrin, und wenn das alles nicht reicht, gibt es noch die Zeit, die uns vernichten wird.

Vielleicht ist der Turbo Kapitalist, den Engels verachtet hätte, den Engels entmachtet hätte sehen wollen, nicht anders als wir - also ich, mit aller Kraft und Aggression will ich aus dem Hamsterrad der Arbeit heraus, und kann nicht, weil ich nicht weiß ob der Zeitpunkt günstig ist, ich zögere, und werde vernichtet.

Und wenn ich krank werde, weil die Ohnmacht mich krank macht, hätte ich da eine Versicherung haben müssen, die mich schützt und mir hilft, eine Versicherungspflicht, eine Versicherung die in Härtefällen auch vom Staat bezahlt wird und das hätte Engels womöglich gefallen, aber die Ärzte die nicht ihr Bestes geben können, oder Praxen haben, wo sie nur Privatpatienten oder Selbstzahler behandeln möchten, wie hätten sie Engels gefallen?

Die Krankheit zum Tode, hatte Kierkegaard geschrieben, den Verzweifelten hatte er beschrieben, und nicht erwähnt, dass das Subjekt am Geld verzweifelt und deswegen sind Engels und Marx diejenigen, die Kierkegaard ergänzen, und wir suchen heute latent diejenigen, die Marx und Engels ergänzen und wissen nicht womit sie sie ergänzen sollen, aber können auch nicht aufhören zu suchen.

Also bleibt mir doch nichts übrig, als mich zu fügen, und wenn in den Bahnhöfen die letzten Sprayer statt schlechte Graffitis kluge Sätze sprühen, wie „Sich fügen heißt Lügen", dann weiß ich, dass die Anderen wissen, was vor sich geht, aber wir können nicht raus, weil wir keine Freunde sind, keine Kollegen sind, keine Leidensgenossen sind, weil wir Konkurrenten sind, weil der Markt uns zu Konkurrenten gemacht hat, und weil es uns ohne den Markt nicht geben kann.

Eifersucht hat Engels mit Marx in seinem Briefwechsel nur so besprochen, dass er in seinen Affären mit Frauen so manches Problem hätte, aber Eifersucht im Leid, im wirtschaftlichen Leid ist synonym mit ökonomischem Neid.

Gern hätte ich bei Engels gelesen, was er denn davon hielte, dass die breite Masse der Amerikaner denken, dass Armut ein Charakterproblem sei, dass man sich nicht angestrengt habe, dass es nicht an staatlichen Regulativen hängen würde, dass, wenn man wollen würde, man vom elenden Tellerwäscher zum elenden Millionär wird, der erfolgreich jeder Bildung davon gelaufen ist.

Man müsste Engels und Marx erklären, diese Welt in der wir heute sind, ist so unkollegial, dass die Gebildeten die neuen Armen sind, die Historiker, die Pädagogen, die Dolmetscher, die Literaturwissenschaftler, die Theaterwissenschaftler, die Germanisten, die Romanisten, die Orientalisten, die Anthropologen, die Politikwissenschaftler, die Philosophen, die Soziologen sind die neuen Armen, nach dem Studium arbeitslos, aber gebildet, denn die Ware Wissen interessiert nicht.

Der einzige Weg gegen die Ohnmacht, das Schreiben, das Befüllen von Online und Offline Seiten mit Inhalt, in einer digitalisierten Welt, sollte von Bedeutung sein, aber auch da wird der Programmierer bevorzugt, unwichtig sind die Inhalte, der Programmierer verdient das 1000 fache des „freiberuflichen" Journalisten, wie hätte Engels das gefallen?

Wenn da nicht der Bauer wäre, oder die Bäuerin, deren Produkte zu günstig gekauft werden, zu günstig um davon leben zu können, in Diskountern, die ich besuchen muss, da ich zu wenig Kapital zur Verfügung habe, die Bauern also, die bei jedem Wahlkampf Thema werden.

Man müsste Engels erklären, es gäbe Biomärkte, aber die verlangen das dreifache vom Preis, den man sich nicht leisten kann, also sind sie gemacht für Wohlhabende, diejenigen Ohnmächtigen, die einen Vorsprung haben was Kapitalsammeln anbelangt. Biomärkte also, die so teuer sind, die vermeintlich Bauern fair behandeln, machen Bioprodukte zum Luxusprodukt. Der Staat müsste eingreifen, sodass die fairen Äpfel soviel kosten wie im Diskounter, aber der Bauer vom Staat so subventioniert wird, dass er an den Äpfels genug verdient.

So würden „faire Produkte" leistbar werden und eine breite Masse würde sich auf sie stürzen, aber da der Staat den Markt nicht überregulieren will, also den Bauern die Differenz nicht bezahlen möchte, ist ein Bio Apfel eine Luxusware, dreimal teurer wie der Apfel des Diskounters.

Nein, wir sind keine Freunde, keine Kollegen, wir sind arrogante Ohnmächtige, die Angst haben vor Chaos, dabei leben wir längst im Chaos.

Des Weiteren ist es doch auch verwunderlich, was man meistens linken Theoretikern vorwirft, dass sie Parteien zugeneigt wären, die man als „Chaoten" bezeichnet, dass sie die Gesellschaft durcheinander bringen würden, wenngleich es Denker wie Marx, Simmel, Engels waren, die Ordnung gebracht haben mit ihren genauen Studien über die Gesellschaft, die Gemeinschaft und ihrer Probleme.

In einer Welt, wo Ohnmächtige im Hamsterrad laufen, habe ich noch keine Leidensgenossen gesehen, die nicht in Konkurrenz stehen - statt in Kollegialität.

Vielleicht hätte Aristoteles sagen müssen; „meine lieben Freunde und Freundinnen, eure Freundschaft kennt keine Kollegialität, ihr werdet zu Kannibalen.", aber so eindeutig konnten Philosophen nie sein, außer Engels wohl, als er sagte:
"Die Menschen haben sich bisher stets falsche Vorstellungen über sich selbst gemacht, von dem, was sie sind oder sein sollen. Nach ihren Vorstellungen von Gott, von dem Normalmenschen usw. haben sie ihre Verhältnisse eingerichtet. Die Ausgeburten ihres Kopfes sind ihnen über den Kopf gewachsen. Vor ihren Geschöpfen haben sie, die Schöpfer, sich gebeugt. Befreien wir sie von den Hirngespinsten, den Ideen, den Dogmen, den eingebildeten Wesen, unter deren Joch sie verkümmern. Rebellieren wir gegen diese Herrschaft der Gedanken." - Die deutsche Ideologie. Marx/Engels, MEW 3, S. 13, 1846/1932

Oder aber kurz formuliert: Glaube deinen Gedanken nicht, und diese Absurdität führt zur Kunst.

 

Die Autorin

Shoka Golsabahi ist 36, Künstlerin und Kunsttheoretikerin, hat kaukasische Wurzeln, ist in Wien aufgewachsen und lebt in Berlin.

Veröffentlicht am 20.04.2020

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