Blog Essaywettbewerb - Friedrich Engels | Kulturrucksack

Andreas Heller und Dorina Marlen Heller - eingereicht am 30.5.2020

Friedrich Engels auf Twitter oder: Wer steigt noch mit dem Kommunismus ins Bett?

Der Kommunismus ist tot! Der Kommunismus bleibt tot!? Und mit ihm die beiden, die ihn philosophisch und durch ihre sozioökonomischen Analysen und radikalen Postulate geboren haben?

Die letzten kommunistischen Greise in den sozialistischen Staaten standen jahrelang immer wieder auf den Führerpodesten der Zentralkomitees. Im Stechschritt der Militärparaden schlugen sie ihre handschuhbewehrten Hände gegeneinander. Mumiengleiche Figuren. Noch lebend wächsern erstarrt. Wie Marionetten zogen sie den Arm zum Gruß hoch. Das war schon ein elendes, langsames Siechtum dieser Repräsentanten des Sozialismus und Kommunismus … 

Das hatte die Idee nicht verdient: Das war ein Symbol der Verbundenheit, eine große internationale Bewegung, von kommunistischen Genossinnen und Genossen, die überall die Welt veränderten, verbunden, kämpferisch, solidarisch, aber auch kriegführend und mordend.

Was hatten Sozialismus und Kommunismus an Kräften freigesetzt! Nicht nur im Spanischen Bürgerkrieg gegen die Faschisten, in Kuba im Aufbau einer neuen, visionären Gesellschaft, im Vietnam gegen die koloniale Eroberung der USA, den Vielvölkerstaat Jugoslawien zusammengehaltend. Alles vorbei. Aber war es auch immer das Ende dieser großen Idee von Gleichheit, von Gerechtigkeit, von einem guten Leben für alle?

In den Trümmern der kommunistischen Staaten war nichts mehr aufzuspüren von den lebendigen, kraftvollen, gesellschaftssprengenden Analysen von Marx und Engels. Ist das im Manifest der Kommunistischen Partei beschworene “Gespenst des Kommunismus”, das durch Europa zog, gejagt von allen Instanzen, wirklich zum Geist geworden?

Spätestens 1989 sind Kommunismus und Sozialismus doch endlich und endgültig krepiert. Sozusagen implodiert. Dem musste niemand mehr etwas hinzufügen. Das ging ganz von allein, ganz friedlich. Das ostdeutsche Volk stand auf. Und mit ihm der Kapitalismus. Mit einem siegessicheren Grinsen im Gesicht, mit geschwollener Brust, mit nichts als Zuversicht im Blick. "Ich bin gekommen, um zu bleiben", hat er uns stolz zugerufen. Und er blieb. Zwischendurch hat er immer mal wieder seinen Look geändert, sich der einen oder anderen Schönheitsoperation unterzogen, eine andere Maske aufgesetzt. Friedrich Engels hatte die vielen Täuschungsmanöver des Kapitalismus schon früh durchschaut. Er und Marx waren der festen Überzeugung, dass die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften eine Geschichte von Klassenkämpfen war. Dass wenige Reiche auf Kosten vieler Armen lebten. Das ist nicht hinzunehmen, gestern nicht und heute nicht und morgen auch nicht.

Aber wer würde heute noch freiwillig mit dem Kommunismus ins Bett steigen. Der alte ideologische Sack hat verloren. Da wehen keine Fahnen mehr, da steht nichts mehr. Da gibt es keine Wegweisung, keine Signalwirkung für die Völker. Ein allzu großes Naheverhältnis zu Marx und Engels gilt jetzt als naiv, es gleicht einem politischen Selbstmord. Der Diskreditierung der kommunistischen Idee folgten immer Verfolgung, Arretierung und Tötung von Kommunist*innen unter Hitler oder unter McCarthy im Amerika der 40er und 50er.

Im Osten Europas bauten sich nach dem 2. Weltkrieg kommunistische Staaten, sozialistische Bruderstaaten auf. Sie standen auf dem Boden der Werke von Marx und Engels. Überlebensgroße Statuen und Porträts von ihnen wurden durch die Massen getragen. Heiligenprozessionen gleich. Welche Verehrung, welche Verbeugungen. Und heute: Selbst linkslinke Politiker*innen halten sich zurück in ihren Sympathiebekundungen zu Marx und Engels. Auf Tuch- und Textfühlung mit ihnen gehen will niemand mehr.

Mit Marx und Engels ist heute kein deutscher Staat mehr zu machen, nicht einmal eine wissenschaftliche Karriere. Vorbei die Zeiten, in denen man mit Engels´ Mikroanalyse „Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats“ von 1884 seine Diplomarbeit in Politikwissenschaft schrieb. Mit Überlegungen zum Verhältnis von Patriarchat, Kleinfamilie und Klassenbegriff seine Dissertation. In der verebbenden Aufbruchsstimmung der 68er wurde man noch habilitiert zu Friedrich Engels' "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" des 19. Jahrhunderts. Als Engels-Kenner*in reüssierte man, wurde berufen auf einen der soziologischen oder politikwissenschaftlichen Lehrstühle an den neugegründeten Universitäten und Gesamthochschulen. Linke unter sich. Marxist war eine Ehrenformel, eine honorig-intellektuelle Selbstbezeichnung, die Zugehörigkeit und Positionsfestigkeit gegenüber der Bürgerwelt, der bürgerlichen Klasse versprach. Man stand für etwas, eine Idee. Davon ließ sich leben.

Heute wird Marx vielleicht noch in den marihuanageschwängerten abseitigen studentischen Lesezirkeln, in den Parks neben den philosophischen Fakultäten angelesen und Engels, na ja. Man leidet nicht nur hier an Amnesie.

Marx und Engels. Die alphabetische Reihenfolge hat sich nicht durchgesetzt. Engels schien eher wie der kleine Bruder von Karl, eine Fußnote im Werk von Marx. Engels respektiert Marx. Im Vorwort zur zweiten deutschen Ausgabe der "Lage der arbeitenden Klasse in England" anerkennt er die wissenschaftliche Leistung von Karl Marx. Sein Buch bezeichnet er als "Jugendarbeit", der er sich "keineswegs zu schämen" brauche. Aber es repräsentiere auch nur eine Phase der "embryonalen Entwicklung". Aber ohne Engels, der ja immer ein wenig im Hintergrund stand und schrieb, wurde die Gesamtausgabe der Werke in den ostdeutschen Buchhandlungen nicht verkauft. Hier waren sie das philosophische Autorenpaar, die Welterklärer, die Chefideologen.

Engels war darüber hinaus noch Historiker, Journalist, Dramatiker, Dichter. In vielen Textgattungen versuchte er seine tief empfundene Ungerechtigkeit über die Gesellschaftsverhältnisse auszudrücken und schätzte diejenigen, die dasselbe versuchten. Etwa seinen Zeitgenossen Heinrich Heine. Man kannte sich, der Mann aus Trier, der aus Wuppertal und der politische Dichter aus Düsseldorf. Man stimmte überein in den großen Linien. Man schätzte sich. Heine war in dem 1844er Jahr tief beeindruckt und beeinflusst von den aufständischen Kämpfen der noch jungen, sich formierenden Arbeiterklasse, die gegen die Verelendung, ihre Proletarisierung durch die industrielle Revolution revoltierte. Der Aufstand der Weber 1844 erschüttert nicht nur Schlesien. Heine schreibt sein Gedicht "Die schlesischen Weber". Er ist sozusagen der poetische Historiker des Aufstands. Karl Marx veröffentlicht es im "Vorwärts", den er herausgibt. Friedrich Engels liefert die erste englische Übersetzung dieses Werks. Engels besingt Heine hymnisch, er sei "der hervorragendste unter allen lebenden deutschen Dichtern".

Engels hatte sehr früh, 25-jährig, das Gedicht von Heinrich Heine über den Aufstand der schlesischen Weber gelesen: "Im düstern Auge keine Träne, / Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:/ 'Deutschland, wir weben dein Leichentuch, / Wir weben hinein den dreifachen Fluch / - Wir weben, wir weben!'" Man spürt, wie der Zorn Heines Feder geführt hat. In harten, klaren Takten zeichnet der Dichter ein Bild vom Aufstand der Geknechteten, der Entrechteten, die nun mit geballten Fäusten auf ihre Ausbeuter losgehen. Jede Zeile ein Schlag.

Aber auch für Engels war der Weberaufstand ein einschneidendes Erlebnis. Gerade aus England zurückgekehrt, fand er Deutschland in Aufruhr vor. Er sympathisiert mit den Anliegen der nun in vielen Teilen Deutschlands ausbrechenden Arbeiter*innenstreiks und propagiert eine kommunistische Gesellschaft. Als ihm daraufhin alle öffentlichen Versammlungen verboten wurden, muss er sich darauf beschränken die Verbindungen der Arbeiter*innengruppen untereinander zu stärken und seine Kontakte zu internationalen Verbündeten auszuweiten.

Solidarität suchen, distanzlos Netzwerke bauen, kollektive Proteste vorbereiten, das geht auch in Isolation, unterhalb von Auftrittsverboten, in kleinen Öffentlichkeiten. Die Idee einer klassenlosen gerechteren Gesellschaft ist mächtig. Und immer wieder der Blick auf die Logik eines expansiven Kapitalismus, "Was wird erst sein, wenn der Zuwachs der jährlichen Produktion vollends zum Stillstand gebracht ist? Hier ist die verwundbare Achillesferse der kapitalistischen Produktion. Ihre Lebensbedingung ist die Notwendigkeit fortwährender Ausdehnung, und diese fortwährende Ausdehnung wird jetzt unmöglich." 1892 schreibt Engels sozusagen das Vorwort für eine Postwachstums-Gesellschaft, heute, nachdem das Wirtschaftswachstum eingebrochen ist, von Stagnation nicht einmal die Rede sein kann und die Engelsfrage - "Was geht zugrunde, die Nation oder die kapitalistische Produktion?" - um die Frage nach einer gerechteren Welt  erweitert werden kann.  

Vielleicht bricht sie ja wieder auf, jetzt nach Corona, in dieser neuen Zeitrechnung, post Engels und post Coronam. Viele haben ja gemeint, die Gesellschaft werde nachher nicht mehr dieselbe sein. Vielleicht waren zu viele zu übersättigt, zu berauscht von dem Glauben an ungebrochenes neoliberales Wirtschaftswachstum und an den eigenen, sich stets vermehrenden Wohlstand. Wir sind um Illusionen ärmer, ernüchterter, realistischer geworden. Vielleicht gelingt erst über die bröckelnde Mittelschicht, die jährlich weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich, eine andere gesellschaftliche Haltung zu Vermögen und Armut. Und Solidarität. Engels würde vielleicht lachen oder vielleicht würde er auch weinen, wenn er 2020 durch die Vororte von San Francisco, die Slums von New Delhi oder die Arbeiter*innenviertel von Peking ginge, und dabei das Schicksal der Wanderarbeiter*innen erfassen würde.

China, lange Zeit zur globalen Bastion des Kommunismus in der Fremd- und Eigenwahrnehmung stilisiert, hat den Greis Kommunismus auch schon in den Sarg der Geschichte gelegt. Kommunismus ist dort längst schon zur leeren Hülle geworden, eine Art Mao-Mausoleum.

Der Kommunismus ist ein altes Kleid, das zu tragen zur Pflichtübung, resultierend aus schlechtem Gewissen und Nostalgie, geworden ist. Zwar besuchen die Erstsemester nach wie vor in verpflichtender Freiwilligkeit die Marxismusvorlesungen. Pflichterfüllung, die nicht ernstgenommen wird. Auch hier ist die kapitalistische Welt und Denke eingebrochen. Es geht nicht mehr nur um Selbsteinschränkung. Chinas Jugend will wie die Jugend im Westen Selbstverwirklichung: Das Streben nach Selbstverwirklichung und sozialem Aufstieg überstrahlt die Ideale, auf denen die Volksrepublik vor knapp siebzig Jahren gegründet wurde. Mao hat zwar noch seinen, mitunter durchaus ambivalenten, Platz in der eigenen Landesgeschichte, aber wirklich dankbar ist man dem Reformer Deng Xiaoping, Wegbereiter für Chinas Aufstieg zur Weltwirtschaftsmacht. "Sozialismus mit chinesischer Prägung" war seine bedingungslose Parole. Das ist zugleich die Überschrift des Nachrufs auf den chinesischen Kommunismus. Durch die Einführung von Sonderwirtschaftszonen”, die letztlich nach rein kapitalistischer Logik funktionierten, wurde der Kommunismus geschwächt, geschmäht und schließlich getötet. Übertrieben. Dramatisch. Effekthascherisch könnte man diese Diagnose vielleicht nennen.

Aber wer sich vor Augen führt, wer die Verlierer*innen von Chinas Kommunismusabwendung sind, urteilt anders. Jährlich fallen rund acht Millionen Bauern und Bäuerinnen zurück unter die Armutsgrenze. Jährlich steigt die Zahl von Chinas Wanderarbeiter*innen, die wohl schon jetzt bei über dreihundert Millionen liegt. Was sie eint, ist die Perspektivlosigkeit eines Lebens im ländlichen Raum, in dem meist nicht viel mehr als das knappe Überleben möglich ist. Sozialer Aufstieg gelingt fast nur noch in der Stadt, aber auch der ist meist nur eine bunt schillernde Seifenblasenillusion. Was die Millionen und Abermillionen tatsächlich erwartet, ist die sogenannte 3D-Arbeit: dirty, dangerous and demeaning.

Was würde Engels dazu sagen? Welche Worte hätte er für die Arbeiter*innen, welche für die Führungselite der Kommunistischen Partei Chinas, die sich nach wie vor auf Kosten der Schwächsten der Schwachen bereichert? "Alles schon gehabt, alles schon gesehen", würde er vielleicht sagen und resignieren. Oder eine Online-Petition starten? Eine neue globale Bewegung ins Leben rufen, unter Zuhilfenahme der sozialen Medien? Hätte Engels Twitter? Würde er nach Davos fahren und dort konträre Positionen vertreten? Was würde er zum Klimawandel sagen? Würde er bei #FridaysForFuture in der ersten Reihe, Transparente schwingend mitmarschieren, oder gäbe es für ihn andere, dringlichere Prioritäten, die zuerst adressiert werden müssten? Wie hätte sich Engels etwa in die #MeToo-Debatte eingeordnet?

Gerade er, der in Geschlechterfragen seiner Zeit und auch Marx weit voraus war. Der in "Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats" 1884 eine historische Analyse von der Entstehung des Patriarchats und der Unterdrückung der Frau vorlegt, die in vielem als visionär angesehen werden kann. Hier zeigt Engels auf, wie die Wechselwirkung von Privateigentum, Staat und die monogame Kernfamilie zur systematischen Unterdrückung von Frauen führt. Von manchen als zu kurz gegriffen, zu unterkomplex und reduktionistisch kritisiert. Für das späte 19. Jahrhundert dennoch revolutionär und auch heute noch hochrelevant. Gerade heute, wo wir in den letzten Monaten im Zuge der Coronakrise um Jahrzehnte zurückkatapultiert wurden, was Geschlechterrollen und Arbeitsaufteilung angeht. Wo Frauen plötzlich aus Entscheidungsgremien und Führungspositionen verdrängt wurden. Wie etwa die erste Frau an der Spitze eines DAX-Konzerns, Jennifer Morgan. In Krisensituationen brauche es schließlich eine "klare Führungsstruktur", erklärte ihr ehemaliger Co-Chef und nun alleiniger Chef bei SAP. Der Platz von vielen Frauen war nun plötzlich wieder wesentlich vorgegebener. Als multitaskende Mütter, im "home-schooling" unterrichtend, kochend, putzend, pflegend, spielend, den Männern den Rücken freihaltend. "In der Familie ist der Mann der Bürger und die Frau der Proletarier", würde Engels nüchtern kommentieren. Während Frauen in der unsichtbaren privaten Sphäre der Familie versanken, wurden die öffentlich sichtbaren Autoritätspositionen weitgehend dem anderen Geschlecht überlassen. Die Virologen, Gesundheitsminister und Chefärzte, die zu uns sprachen, waren fast allesamt männlich. Krisen offenbaren Gesellschaftsstrukturen wie kaum etwas anderes, das wusste Engels auch schon.

Umso wichtiger sind in diesen Zeiten Stimmen, die das Wohl derer, die verstummen, aus Angst, aus Schwäche, aus Verzweiflung, im Blick haben. Engels hätte das vielleicht vermocht. Noch 1892, wenige Jahre vor seinem Tod, schrieb er an Nikolai Franzewitsch Danielson: "Alle Regierungen, seien sie noch so unabhängig, sind en dernier lieu (in letzter Instanz) nur die Vollstrecker der ökonomischen Notwendigkeiten der nationalen Lage." Die Konsequenz: Neue politische Systeme und Strukturen, die auf einer grundlegend anderen Idee aufbauen. Naiv oder möglich?

In jedem Fall: "Niemand kann für eine Sache kämpfen, ohne sich Feinde zu schaffen." Täglich haben wir erneut die Wahl, ob und wofür wir kämpfen wollen, und welchen Preis wir zu zahlen bereit sind.

 

Die Autoren

Andreas Heller und Dorina Marlen Heller
Andreas Heller ist in Düsseldorf aufgewachsen, arbeitet seit langem an einer österreichischen Universität, wo er sich mit Versorgungs- und Sorgefragen postmoderner Gesellschaften befasst, der Text ist aus verschiedenen Gesprächszusammenhängen gemeinsam mit seiner Tochter Dorina Marlen geschrieben.

Dorina Marlen Heller ist derzeit Masterstudentin an der University of Oxford und veröffentlicht regelmäßig in Zeitschriften und Anthologien (Edition Lyrik der Gegenwart, Jahrbuch österreichischer Lyrik, StoryApp, uvm.) und ist Preisträgerin verschiedener Literaturwettbewerbe (u.a. Münchner Kurzgeschichtenwettbewerb, fm4 wortlaut, Europäischer Jugend- Literaturwettbewerb).
Veröffentlicht am 30.05.2020

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