Blog | Essaywettbewerb - Friedrich Engels

Christian J. Bauer - eingereicht am 30.5.2020

Engels, Autorität und der absterbende Staat

Die National Rifle Association (NRA, zu Deutsch: Nationaler Gewehrklub) ist der Meinung, dass nicht Waffen Menschen, sondern Menschen Menschen töten. Im Angesicht der Technik bemüht die NRA also auch im 21. Jahrhundert das Bild des autonomen Bürgers und verteidigt damit ein aus europäischer Perspektive manisch anmutendes Freiheitsrecht: Der amerikanische Bürger darf seine Schusswaffen mit ins Bett nehmen, weil er es ist, der tötet.

Doch zwischen den Laken schleicht sich die Autorität in diesen Begriffsspagat, der Nenner also, unter dem sich ein fremder Wille subsumieren lässt, der die vermeintlich autonom um sich schießenden Bürger in ihrer Freiheit beschneidet. In der Freiheit, keine Waffe tragen zu müssen. Man debattiert, ob Lehrer zum Schutz der Schüler Waffen tragen sollten, man schützt sich, weil die Freiheit Sicherheit kostet und dadurch zur Pflicht wird.

Bei Engels findet sich eine Erklärung dieses Vorgangs in ökonomischer Hinsicht1: Wenn das industrielle Wirtschaften und damit auch die Technik um sich greifen, verselbstständigen sich die Abläufe, in die der Mensch qua seines Wirtschaftens eingebunden ist. Die Dampfmaschine diktiert erbarmungslos den Takt der täglichen Arbeit, der Fahrplan kettet den Lokführer an eine ihm fremde Gewalt. Die Natur verhöhnt auf diese Weise ihre Bezwinger. Zum Ding erniedrigt und bis aufs Gerippe ihrer physikalischen Gesetze entblößt, zwingt sie die Menschen in das von ihnen selbst erschaffene Getriebe. Zahnrad-Existenzen sitzen in der Frühe fein aufgereiht in der Straßenbahn, eine jede auf dem Weg zu ihrem ausgesuchten Platz in der Maschinerie.

Der durch die technologische Entwicklung verursachte Autonomie-Gewinn, der sich vor allem darin zeigt, dass immer weniger Menschen ihren Lebensunterhalt durch ihre Muskelkraft bestreiten, wird also durch eine neue Form von Autorität einkassiert. Erstes Opfer der Industrialisierung und der mit ihr einhergehenden Arbeitsteilung ist die Muße. Dem Gras beim Wachsen zuzusehen, kann sich ein Bauer leisten, der sein Tagwerk verrichtet hat. Für Zahnräder gibt es jedoch kein Tagwerk, sondern nur Funktionen. Ein Zahnrad kommt nie irgendwo an. Deshalb sieht auch nur ein Zahnrad einen Sinn darin, für den Acht-Stunden-Tag zu kämpfen.

Der Bürger, der die Freiheit besitzt, eine Waffe zu tragen, büßt ebenso jene dadurch gewonnene Autonomie ein, wenn auch der Nachbar, der Kellner und der Bandit mit prall gefülltem Holster herumstolzieren – das Tragen einer Waffe wird zur Notwendigkeit, aufgezwungen von einer sich verselbstständigenden Autorität. Zerschlagen kann diesen gordischen Knoten nur das Gewaltmonopol – also politische Autorität, die dieser verselbstständigten Autorität ihrem Wesen nach entgegengesetzt ist.

Engels betrachtete die Autorität daher – konträr zu den Anarchisten seiner Zeit – als erforderlich, selbst nachdem die Revolution gesiegt haben würde. Mit einer Ausnahme: In der Politik werde die Autorität zusammen mit dem Staat untergehen. Das Politische werde aus den öffentlichen Angelegenheiten verschwinden, also das Für-und-Gegen Jemanden, denn aus der Asche des revolutionären Feuers werde sich die klassenlose Gesellschaft erheben, in der die Adressaten dieses Für-und-Gegen abhandengekommen sind. Im 21. Jahrhundert hat sich diese Prophezeiung nur teilweise erfüllt; mit verheerenden Konsequenzen.

Es gibt ihn noch, den althergebrachten Lobbyismus, wie ihn die NRA seit Jahrzehnten bravourös betreibt. Doch was wichtigere Fragen betrifft als den Inhalt der bürgerlichen Gürteltasche, hat sich eine Autorität längst so weitreichende Autonomie verschafft, dass der engelsche Traum vom Absterben des Staates Wirklichkeit zu werden droht. Das Wirtschaftswachstum und der es bedingende Konsum sind im Begriff, die Politik zum administrativen Steigbügelhalter zu degradieren. Gleichzeitig wurden die Klassenunterschiede durch dieses Wachstum nicht aufgehoben, sondern aufpoliert. Engels Utopie ist damit einer Dystopie gewichen: Anstatt Politik durch die Abschaffung der Klassenunterschiede überflüssig zu machen, ist Politik überflüssig geworden, weil das Für-und-Gegen der politischen Auseinandersetzung sich im Wirtschaftskreislauf jenseits politischer Einflussnahme vollzieht – und die Klassenunterschiede so zementiert. Engels kannte für diese ökonomische Auseinandersetzung den Begriff der Konkurrenz, übersah aber deren quasipolitischen Charakter – und damit die Gefahr eines Absterben des Staates trotz fortgesetztem Klassenkampf. Der Staat stirbt im 21. Jahrhundert also nicht, weil die Klassenkämpfe an ihr Ende gelangt sind. Stattdessen wird er als Hüter des Klassenkampfes obsolet, weil die anonyme Autorität des Wachstums- und Konsumzwangs diese Funktion übernimmt, indem sie alle Beteiligten an ihrer Stelle im Getriebe hält.

Die Symptome dieser Entpolitisierung politischen Handelns (im Grunde: der Simulation politischen Handelns) sind vielfältig. Wenn die Bundesernährungsministerin lächelnd die Hand des Managers eines der größten Lebensmittelkonzerne der Welt schüttelt, weil sie einen »Verhandlungserfolg« feiern will, scheint das zunächst das Ergebnis klassischer Lobbyarbeit zu sein. Tatsächlich spricht aus diesem Vorgang jedoch eine apolitische Haltung, die jeder Lobby und jedem Hinterzimmer zuvorkommt: Mit Konzernen über die Reduktion des offensichtlich schädlichen Zuckergehalts in ihren offensichtlich auf Kinderaugen und -herzen ausgerichteten Brausen zu verhandeln, anstatt ein entsprechendes Gesetz zu verabschieden, ist Ausdruck politischer Apathie. Ein solches Gesetz wäre politisch im strengen Sinne Engels, nämlich ein Schlag der Legislative ins Kontor derjenigen, die sich auf Kosten einer anderen Gruppe bereichern wollen – also Politik für und gegen Jemanden. In solchen Fragen zu verhandeln, bedeutet, niemandem mehr schaden zu wollen und beschwört das allgemeine Einverständnis aller – nach Engels das genaue Gegenteil politischen Handlungswillens.

Die dabei beanspruchte Universalität entstammt dem Reich der Moral, wo für alle verbindliche Regeln gesucht und auf Herz und Nieren geprüft werden. Jeder Versuch, diese auf politische Entscheidungen zu übertragen, scheitert jedoch an den realen und notwendig partikularen Interessen. Hinter dem Schleier des Nichtwissens können wir uns alle auf politische Minimalforderungen einigen, weil die eigene Position unbekannt ist. Hebt sich der Vorhang, beginnt die eigentliche politische Auseinandersetzung und vorab aufgestellte, vermeintlich politische Prinzipien entpuppen sich als moralische Imperative, die nicht länger von Belang sind. Aus dem hehren Anspruch einer Konsensmoral wird, ganz im Sinne Engels, Klassenmoral. Eine verhandelnde »Politik« gibt sich daher quasimoralisch, weil sie längst aufgehört hat, politisch zu sein.

Darüber hinaus legt die Sehnsucht nach einem solchen politischen Radikalkonsens die Logik offen, die hier stillschweigend und von Niemandem beabsichtigt waltet. Wo die maßgebliche Autorität nicht mehr politischer Natur ist (eindrücklichstes Merkmal einer solchen Autorität ist ihre Angewiesenheit auf eine wehrhafte Exekutive), ist sie so allumfassend geworden, dass sie dem Dampf der Dampfmaschine gleich alle zwingt, ohne noch Zwangsmittel nötig zu haben. In diesem Sinn wirken Wachstums- und Konsumzwang als Autorität, die keine Gegner mehr findet, sondern nur Zahnrädchen, die froh sind, sich unter ihrer Knute so lange drehen zu dürfen, bis neue Zahnräder herangeschafft sind, die schneller und zuverlässiger ihre Funktion übernehmen. Arbeiter (heutzutage meist: Angestellte), Unternehmer, Politiker – sie alle eint die Unterordnung unter die wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten.

Wie im Fall des amerikanischen Rechts, eine Waffe zu führen, geben sich auch hier Freiheit und Unfreiheit die Klinke in die Hand. Der Politiker erfährt einen Gewinn an Autonomie, weil er sich nicht länger Idealen oder Parteilinien verschreiben muss. Vielmehr ist er vom Albdruck befreit, der seit jeher auf dem politisch Handelnden lastete, nämlich von der Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger. Im 21. Jahrhundert kennt sein Berufsstand kein richtig oder falsch mehr. Nur noch die Kategorie der Reibungslosigkeit, die sein administratives Geschick beschreibt und damit seine ausgesuchte Zurückhaltung sowie die Einebnung etwaiger Hindernisse für Wirtschaftswachstum und Konsumklima meint. Im Umkehrschluss sind jedoch seine Möglichkeiten zum eigentlichen politischen Handeln auf ein Minimum beschränkt (das Kriegswesen vielleicht). Das versetzt ihn in den Wartestand, von dem aus er der endgültigen Ablösung seines Berufsstands durch effizienteren Ersatz entgegensieht. Der Lackmustest für diese Diagnose zieht diese zu erwartende Ablösung vor: Ersetzte man die politisch Verantwortlichen durch ihnen ebenbürtige Algorithmen, ginge der politischen Sphäre im Ergebnis etwas verloren, das über die Simulation altbekannter, »demokratisch« genannter Abläufe hinausgeht? In anderen Worten: Worin läge der Unterschied?

Der Unternehmer wiederum, im Verständnis Engels also der Kapitaleigner, genießt sein von gesetzgeberischen Eingriffen unbehelligtes Wirtschaften und erfährt sich unter dem Druck der anonymen Autorität paradoxerweise als selbstbestimmt. Gleichzeitig ist er selbst jedoch Opfer der Wachstumslogik, insofern er aus diesem Treiben nicht ausbrechen kann und nicht länger Herr über seinen Maschinenpark ist, sondern längst die Interessen von Aktionären und Investoren befriedigen muss.

Der Arbeiter bzw. der Angestellte wiederum erlebt seine Zahnrad-Existenz als die Freiheit, sich hemmungslos und ausschließlich dem Konsum zu verschreiben, was ihn in der Konsequenz umso vehementer in die Maschinerie drängt, aus der es kein Entkommen mehr gibt, solange er nicht dem Konsum selbst Valet sagt.

Dieser Abriss von Autonomie-Gewinn und -Verlust der Betroffenen führt zu einem Begriffspaar, dass mit jenem von Autonomie und Autorität verwandt ist: Verantwortung und Funktionalität. Durch die Unterordnung unter die ökonomische Autorität erfahren alle drei skizzierten Gruppen eine Befreiung von der Last der Verantwortung. Die anonyme Autorität des Wachstumszwang hat alle Verantwortung in Luft aufgelöst. An ihre Stelle ist die Funktionalität getreten, die alle Betroffenen austauschbar macht und sowohl Zweck als auch Mittel der jeweiligen Tätigkeit so weit vordefiniert, dass angesichts der resultierenden engen Grenzen kaum noch vom Handeln gesprochen werden kann.

Mit dieser Entwicklung gehen Engels so unbekannte Phänomene einher wie eine Verbraucher-Moral, die die politische Apathie mit dem Mantra aufzufangen und zu legitimieren versucht, dass Wohl und Wehe der Gesellschaft, der Tiere, ja des Planeten doch in den Händen des Verbrauchers lägen. Er allein entscheidet demnach tagtäglich über das Ausmaß der Klimakatastrophe oder der Ausbeutung, und zwar jedes Mal, wenn er den Supermarkt betritt oder seinen Browser öffnet. Natürlich ist auch die Verbraucher-Moral eine Klassenmoral erster Güte. Schon allein, weil die Verschiebung der demokratischen Willensäußerung von der Wahlurne an die Supermarktkasse denen ein Mehr an »demokratischer« Macht zuschustert, die über den dickeren Geldbeutel verfügen. Gleichzeitig wird der radikalere Schritt, der Verzicht auf Konsum (gar nicht nach Australien zu fliegen, anstatt zusätzlich CO2-Ablassbriefe zu erstehen), zu einem Verzicht auf politische und moralische Teilhabe.

Wo politische Parteien tatsächlich noch auf Gesetze hinarbeiten, die politisch im Sinne Engels sind und das Ökonomische betreffen, betreiben sie paternalistische Politik, die sich dadurch auszeichnet, dass sie für und gegen dieselbe gesellschaftliche Gruppe konzipiert ist. Diesel-Fahrverbote sollen den einfachen Bürger weniger Schadstoffen aussetzen, aber zwingen ihn, sein altes Auto abzuwracken. »Veggie-Days« in Kantinen sollen die Ernährung der Bürger gesünder und klimafreundlicher gestalten, schreiben ihm aber vor, was er zu essen hat. Auch diesen Knoten kann nur eine selbstbewusste Staatsmacht durchschlagen, die sich traut, ihre Gegner auf beiden Seiten des wirtschaftlichen Spektrums zu suchen.

Einzig dem Verbraucher wird also noch eine Art Ethik untergejubelt (und mit ihr der schwarze Peter), die allerdings ebenfalls auf einem Wechselspiel von Autorität und Autonomie beruht. Unter dem Diktat, verantwortungsvoll zu konsumieren, wird der hemmungslose Konsum um eine Dimension der Befriedigung erweitert. Das Steak vom irischen Bio-Weiderind schmeckt nicht nur hervorragend und bespielt medium-rare auf den Teller tropfend Männlichkeitsfantasien ersten Ranges, in seinem Preis ist die moralische Selbsterhöhung längst inbegriffen – und wohlweislich den privilegierteren Bürgern vorbehalten.

Auf dem Aschehäufchen des revolutionären Furors vergangener Zeiten tanzt daher die verselbstständigte Autorität und singt: Grenzenloses Wachstum tötet weder Menschen noch den Planeten. Menschen töten.

Engels Kampf galt zeitlebens dem Privateigentum, auf dessen Grundlage sich eine besitzende Klasse überhaupt erst erheben kann, die in der Folge den Staat als Besitzstandwahrer ins Leben rufe. Diese (widerlegte) Genese des Staats lässt sich so deuten, dass mächtige Menschen eine politische Autorität erfanden, um eine andere, ihnen gefährlich werdende, moralische Autorität auszustechen: die von Engels idealisierte Autorität der sozial veranlagten Stammesgesellschaft. Eine Rückkehr zu dieser Form des besitzlosen Wirtschaftens kann nicht das Ziel sein, erst recht nicht auf Basis der von Engels propagierten Planwirtschaft. In dieser Hinsicht ist sein Denken heutzutage überholt.

Doch seine Definition von Politik und die von ihm beschriebene anonyme Autorität des Sachzwangs liefern Anhaltspunkte, wie Politik im 21. Jahrhundert zunehmend operiert und warum dies abzulehnen ist. Das Absterben des Staates muss, mit und gegen Engels, verhindert werden, wenn die freiheitlich demokratische Grundordnung erhalten werden soll. Denn das »freie« Wirtschaftsleben bietet keinen Ersatz dafür. Dazu muss zunächst die Klassenmoral des ethischen Konsumierens aufgegeben werden. Das bedeutet auch, die Verantwortung für den Zustand unserer Gesellschaften und unseres Planeten von der individuellen auf die kollektive Ebene zurück zu verlagern: auf die politische.

 

 

Der Autor

Christian J. Bauer ist 31 und lebt als freischaffender Lektor und Autor in Stuttgart.

 

Fußnote:

1. Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. Dietz Verlag, Berlin. Band 18, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 305-308.

(www.mlwerke.de/me/me18/me18_305.htm)

Veröffentlicht am 30.05.2020

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