Blog | Essaywettbewerb - Friedrich Engels

Josefine Berkholz - eingereicht am 30.5.2020

Einen Widerspruch aushalten, ausleben, aufheben

Nothing is final, absolute, sacred.
Friedrich Engels, unter dem Eindruck seiner ersten Hegellektüre.

 

Das kommunistische Manifest wäre niemals geschrieben worden, hätte Engels Marx nicht irgendwann die Zigarren gestrichen und geschworen, dass es erst wieder welche gibt, wenn das erste Kapitel steht. Ich denke oft an ihn, wenn ich in letzter Zeit vor dem Laptop sitze und ein weiteres Mal meine Twittertimeline zum Laden nach unten ziehe, den Stift in der Hand.

Ich musste auch an ihn denken, als Paris brannte und die Streikenden auf der Zufahrtsstraße zum Amazonlager zwischen den Autoreifen ein Picknick veranstalteten und Pamela Anderson schrieb: Ich verachte Gewalt. Aber was ist die Gewalt all dieser Menschen, was sind brennende Luxusautos gegen die strukturelle Gewalt der französischen – und globalen – Eliten?

In den Kommentarspalten warfen ihr diejenigen, die sie nicht gleich als dreckige Hure beschimpften, Verlogenheit vor, weil Pamela Anderson ein geschätztes Vermögen von elf Millionen Dollar auf dem Konto hat. Aber immerhin wurde dieses Vermögen nicht durch fremde Arbeit fremder Körper in einer Fabrik erwirtschaftet, sondern durch ihren eigenen, einen Körper, zu dessen Bild in den 90ern masturbiert zu haben ihr die Männer in der Kommentarspalte scheinbar immer noch irgendwie übelnahmen. Da musste ich an Engels denken und fand das ein bisschen unfair.

 

Friedrich Engels wurde 1820 in der Textilproduktionsstadt Barmen in eine Fabrikantenfamilie geboren. Seine Übernahme der väterlichen Geschäfte stand von Anfang an fest, er würde ein Fabrikant werden wie sein Vater und Großvater und all seine Onkel vor ihm und ein Jahr vor dem Abitur nahm Vater Engels ihn aus der Schule, damit er endlich die Kaufmannsausbildung beginnen und von den Gedichten und den aufrührerischen Ideen und der Spätromantik wegkommen würde, denen Engels der jüngere nachhing, kurz kam die Befürchtung auf, er könne ein Schriftsteller werden, und stattdessen arbeitete er siebenundzwanzig Jahre in der Verwaltung der Baumwollspinnerei seines Vaters und hasste es, und parallel dazu schuf er gemeinsam mit Marx eine Idee, die sich gespenster- oder lauffeuerhaft über Europa verbreiten sollte, je nachdem.

Ich frage mich, wie schwer es für ihn war, diese Widersprüche auszuhalten, und ob er zu jedem Zeitpunkt, oder wenigstens zu den meisten, daran geglaubt hat, dass er auf die sinnvollste mögliche Art seine Privilegien nutzte; dass es richtig war, das Beste, was er aus seiner Position heraus tun konnte, Marx abwechselnd Zigarren zu kaufen und wieder wegzunehmen und das Grauen minutiös zu dokumentieren, das er in den Fabriken seines Vaters und dessen Freunden vorfand. Männer, auf die er angewiesen war und deren Gesellschaft er mied.

 

Die Theorie des Effektiven Altruismus besagt, dass man sich auch oder gerade bei dem Versuch, Gutes zu tun, nach genau zu berechnenden Effizienzprinzipien ausrichten soll. Möglichst schnell sehr reich werden und das Geld dann da einsetzen, wo es am meisten gebraucht wird, in eine machtvolle Position kommen. Es gibt viele Namen für diese Taktik: den Kapitalismus durchspielen. Das System von innen verändern1. Wenn ich jetzt sofort aufhöre, Gedichte zu schreiben, habe ich in sechs Jahren eine fertige Promotion in Philosophie. Wenn wir Glück haben, ist dann noch ein bisschen was übrig von der Welt, das zu retten wäre, aber es ist momentan ein irrsinniges Unterfangen, Prognosen zu machen. Ein Freund sagte beim Essen zu mir: „Es wird sich alles immer wie ein Placebo anfühlen“. Auf der Demo stehen und frieren. In eine Partei eintreten, an die man zu immerhin 65% glaubt. Weiter die Ungerechtigkeiten präzise beschreiben (ignorieren), die uns umgeben. Wir saßen in der Mensa der Humboldt Universität Berlin, in deren Hauptgebäude Marx‘ Zitat von der Unzulänglichkeit unserer Zunftgenossen gigantisch über den Treppen im Eingangsfoyer prangt: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern, und aßen beide zum dritten Mal in diesem Monat die „Dinkelmedaillons an einer fruchtigen Currysoße“, die nach gepresstem Hamsterstreu schmecken, weil man wohl irgendwo anfangen muss, wenn nicht mit dem Nützlichen, dann wenigstens mit dem Greifbaren.

 

Engels und Marx beschreiben im „Kapital“, dass jede Position im kapitalistischen System ihre eigenen Handlungslogiken hervorbringt und erzwingt. Der Fabrikbesitzer kann gar nicht anders handeln, als er es tut, selbst wenn ihn der Selbsthass zerfrisst, während er die Inventur der zweiten Wollmühle macht, selbst wenn er beschließen sollte, unter falschem Namen gegen seine Position anzuschreiben, selbst wenn aller Überschuss aus der Produktion in eine Theoriebildung fließt, die die eigenen Arbeiter zum Umsturz aufwiegelt. In seiner frühen Zeit in Manchester umgab sich Engels mit einigen Theoretikern, die versuchten, ihre Ideale von geschwisterlicher Arbeit, freier Bildung und geteilten Besitzansprüchen direkt in die Tat umzusetzen. Einige von ihnen brachten es bis zur Errichtung utopistischer Arbeitersiedlungen in Großbritannien und den USA, mit eigenen Schulen, einer öffentlichen Hall of Science, starken gewerkschaftlichen Netzen und gelebter Kritik an der bürgerlichen Ehe. Sie haben nicht lange gehalten. Selbst den Bereich, den man unmittelbar zur Verfügung hat, den eigenen Idealen gemäß zu gestalten, schien also zum Scheitern verurteilt in einer Umgebung, die diese Ideale notwendigerweise schluckt. Was ist die Gewalt all dieser Menschen, sind brennende Luxusautos gegen die strukturelle Gewalt der französischen – und globalen - Eliten? Was kann die Gewalt dieser Menschen, die Gewalt brennender Autos schon ausrichten gegen die Sachzwänge eines Marktes, der es gar nicht so meint.

 

Die hegelsche Dialektik, die für den jungen Engels so etwas wie ein Enthüllungsereignis war, besagt, dass jede Epoche die Widersprüche bereits enthält, die sie letztendlich zum Einsturz bringen. Es hat seit vier Wochen nicht geregnet.

In Berlin, in Bergamo, in Frankfurt, Barcelona und New York City stehen die Menschen auf ihren Balkonen und applaudieren dem Gesundheitspersonal. In den Facebookaufrufen zu der Aktion nennen sie die Angesprochenen „Leute“, als sprächen sie zu ihrer Schulklasse in den 80ern, vertraute Teenager, vor denen man doch ein bisschen nervös ist. Sie schlagen Kochlöffel gegen Töpfe, lärmen mit allem, was sich in den frisch ausgemisteten Küchen noch finden lässt, als wollten sie einen Geist austreiben.

Im feministischen Marxismus gibt es die These, dass im Kapitalismus all jenes, was für das Leben zu grundlegend und also zu kostbar ist, um es zu bezahlen, naturalisiert und sich ohne Gegenleistung genommen wird: die Natur, die Körper der kolonialisierten, Mutterliebe, Pflege der Kranken, Alten, Erschöpften und Kinder. Das Lächeln der Kassiererin und die kurz vor dem Kippen gerettete Stimmung. Das ganze Wasser und Holz, die Luft, die vergiftet und die Erde, die abgetragen wird. Es ist natürlich, dass eine Frau ihre Kinder liebt, ihre Eltern versorgt, dass sie Essen kocht. Es ist natürlich, das Land abzugraben, auszuwringen und zu bebauen. Nach dieser Theorie sind die sogenannten Systemrelevanten nicht lausig bezahlt obwohl, sondern weil sie unverzichtbar wird. Dem Druck, den es bedeuten würde, sie für ihre Anstrengung und ihre Unerlässlichkeit tatsächlich symmetrisch zu entlohnen, hielte das System nicht stand. Man nennt das einen Sachzwang.

 

Die Menschen sagen „Helden“, wenn sie von Supermarktkassierern, Busfahrerinnen und Pflegern sprechen, wie spielende Kinder ein paar Kieselsteine „Golddublonen“ nennen, mit einem angespannten, heiligen Ernst, der versucht, etwas Offensichtliches zu verdecken.

 

Marx und Engels definieren Arbeitskraft als erste umfassend als eine Ware, und zwar als die grundlegendste von allen. Fürsorgearbeit – einen Menschen pflegen, füttern, ernähren, berühren, ihm zuhören und ihn lehren – ist die Arbeit, die diese Ware produziert. Alles andere, das geschieht, errichtet oder erwirtschaftet wird, baut auf ihr auf.

 

Durch meine Timeline geistern Fotos. Die Schutzmasken der Pfleger*innen haben am Ende ihrer vierzehnstündigen Schicht Schwielen und Risse in ihre Gesichter gegraben. In Großbritannien starben bis 20. April 2020 mindestens 131 Pfleger*innen und 76 Taxifahrer an Covid 19. Der Komiker Jake Flores schreibt auf Twitter: If people start calling you a hero that means they’re about to let you die. Die Widersprüche dieser Epoche treten eindrucksvoll zu Tage, und irgendetwas - oder irgendwen – bringen sie sicher zu Fall.

 

Wenn ein Mensch auf die Welt kommt, kann er alleine nicht einmal seinen eigenen Kopf halten. Für mich konterkariert nichts eindrucksvoller die Idee, dass unser natürliches Verhältnis zueinander der Kampf sei. Wir kommen auf die Welt mit nichts als unserer Bedürftigkeit. Und irgendwie haben wir es so eingerichtet, dass dieser Umstand uns in aller Regel nicht umbringt. Das ist bemerkenswert. Wir alle denken, arbeiten und schreiben, weil jemand unseren Kopf gehalten und unsere Brüche geschient hat. Wir schützen und nähren diejenigen, die wir lieben, unser Schutz und unsere warmen Gerichte oft ein unmittelbarerer Ausdruck dieser Liebe, als Sprache ihn liefern könnte. Das ist nur natürlich. Es stimmt ja.

Die Fürsorge, die wir erfahren, befähigt uns wiederum, für andere zu sorgen, das Fleisch, das sie essen, zu schneiden, sie einzufangen, bevor sie auf die Straße rausrennen, und ihre Lungen zu intubieren, wenn sie nicht atmen können. Sie befähigt uns, bis zum Ende bei ihnen zu bleiben. Sie befähigt uns, uns ihnen verpflichtet zu fühlen. Das könnte schön sein. Aber bedeutet es, unter den gegebenen Umständen, (und die Pandemie hat diese Umstände nur schärfer zutage treten lassen), dass unsere Mütter uns für die Schlachtbank gepeppelt haben?

In der Diskussion unter Flores‘ Tweet schrieb jemand, dass es nun mal zur Definition eines Helden gehöre, große Opfer zu bringen. Und es stimmt: für jemanden sorgen bedeutet immer ein Opfer. Aber die Umstände dieses Opfers machen den Unterschied aus zwischen Held und Kanonenfutter.

 

Engels kam schon 1843 der Gedanke, dass die Verhältnisse, unter denen wir arbeiten, die Arbeit selbst verändern. Unter dem Eindruck des mechanisierten Schuftens in den Fabriken von Manchester beschrieb er das Verhältnis der Arbeiter*innen zum Produkt ihrer Arbeit zum ersten Mal als Entfremdung: Dadurch, dass in den kleinteiligen Produktionsstätten niemand mehr etwas vollständig schafft, verlieren die Arbeitenden die Verbindung zu dem, woran sie da schuften. Seine Vollständigkeit und sein Nutzen werden für sie nicht mehr greifbar. Der Zweck der Arbeit ist so nicht mehr ein Produkt, sondern ausschließlich der Selbsterhalt.
Man arbeitet nicht um etwas zu erschaffen, zu verschönern oder am Leben zu erhalten, sondern um nicht zu verhungern. Dass man das für etwas oder jemanden tut, seine Kraft zu investieren etwas Nützliches in die Welt bringt, wird verschleiert. Das nimmt der Arbeit die Autonomie, die Bestimmtheit, die Würde.

In meinem Twitterfeed ist ein Video, in dem der amerikanische Regierungsberater für Wirtschaft, Kevin Hasset, sagt: “Our human capital stock is ready to get back to work, and so there are lots of reasons to believe that we can get going way faster than we have in previous crises”.

 

Was später von marxistischen Feministinnen wie Silvia Federici als Care- oder Fürsorgearbeit beschrieben wurde, heißt bei Marx und Engels noch Reproduktionsarbeit und spielt kaum eine nennenswerte Rolle. Diese Lücke wurde seither geschlossen. Fürsorgearbeit ist die Produktion der wichtigsten Ware: des Menschen. Der Sektor, in dem diese Arbeit professionell angeboten wird, gehört zu den am stärksten prekarisierten, er ist von Schwarzarbeit, Überlastung und Ausbeutung geprägt, und daran ist keine Änderung in Sicht.

Als sich Mitte Mai Eltern, die zwischen Vollzeitarbeit im Homeoffice und der plötzlich voll anfallenden Kinderbetreuung nicht mehr weiterwussten, unter einem Hashtag versammelten, kommentierten viele der Kritiker*innen, dass sie den Begriff „Fürsorgearbeit“ ablehnten, nicht nachvollziehen könnten, krank fänden. Sich um die eigenen Kinder zu kümmern sei normal, natürlich, keine „Arbeit“, und wer das so sehe, dem gehörten die Kinder vielleicht weggenommen. Kinder im Übrigen, für die man sich doch wohl freiwillig entschieden habe.

Zwei Dinge werden in diesen Reaktionen sichtbar: dass erstens offenbar nur als Arbeit zählt, was unangenehm ist, und dass zweitens die Naturalisierung dessen, worauf wir nicht verzichten und was wir unmöglich bezahlen können, nach wie vor reibungslos funktioniert.

Dass eine Tätigkeit uns fremd werden kann, und wir uns selbst in ihr, gerade weil sie natürlich ist, kommt in dieser Sichtweise nicht vor. Dabei ist gerade das der Widerspruch, gerade das die Brutalität: unter Zwang das zu tun, unter Bedingungen, die wir nicht gewählt haben, in Gefahr zu geraten durch das, was uns am nächsten sein sollte, was uns verbindet, einander keine Helden zu sein, sondern Kanonenfutter.

 

Ich habe eine Liste mit Dingen geschrieben, die ich seit Beginn der Kontaktbeschränkungen am 16. März 2020 vermisse, und jede volle Stunde einen Punkt der Liste auf Twitter gepostet.  Die Lücken für mich selbst und eine kleine Öffentlichkeit explizit zu machen, war mein erster Versuch zu trauern. Die Liste beginnt mit dem Satz: Ich vermisse alle. Sie enthält außerdem: Die Mensa und die Hamsterstreu-Dinkelmedaillons, Zufälle, die Pausengespräche im Theater, meine Nichte, die Kneipe, Smalltalk, Demos, Applaus. Was die Menschen, mit denen ich in den letzten zwei Monaten gesprochen oder denen ich übers Internet ungesehen zugehört habe, am schmerzlichsten vermisst haben, waren Zusammenkünfte, ihre Freunde, ihre Familien, Zeit für sich, die Öffentlichkeit und Luft. Was mich und die, die ich kenne, in den letzten zwei Monaten gerettet hat, waren öffentliche Parks und der trockene Frühling, der eigentlich die nächste Katastrophe war, Bücher, Sauerteig und Netflix. Die Reihenfolge der Lockerungen orientiert sich, genau wie die Verteilung der Hilfspakete, nicht an den Bedürfnissen, sondern an den Sachzwängen, und erstaunlich ist daran eigentlich nur, dass das scheinbar auch niemanden groß überrascht. Jede Position im System bringt ihre eigene Handlungslogik hervor und erzwingt sie. Ich glaube daran, dass das nicht böse ist, und sogar daran, dass es, so, wie die Dinge liegen, nicht anders geht. Wir können gemeinsam trauern oder uns eine Geschichte erfinden, in der wir im Grunde die „Gewinner der Krise“ sind, oder wenigstens „noch ganz gut weggekommen“, irgendeine Position, die kein Einschreiten notwendig macht.

 

Engels hat einige der Widersprüche, die nach Hegel eine Epoche zum Einstürzen bringen, am eigenen Leib zu spüren bekommen, und ist es bezeichnend, dass er die Lösung dieser Misere – die große, die Epoche verabschiedende Revolution – nicht in seiner eigenen Klasse sah, strukturell außerhalb seiner Reichweite? Dass er das zu tun, was getan werden musste, als das Schicksal anderer interpretierte?

Zu sehen, was getan werden müsste, an den relevanten Handlungsschritten aber höchstens indirekt teilzuhaben, ist ein Widerspruch, der die Philosophie seit ihren Anfängen begleitet. Als es im April 2020 wahrscheinlicher wurde, dass deutsche Krankenhäuser wie zuvor italienische und spanische in die Situation kommen könnten, nach einer sogenannten Triage zu entscheiden, wer beatmet wird und wer nicht, ließ der deutsche Ethikrat verlauten, er könne dazu nichts Verbindliches sagen. In dieser Disziplin wiegen die Toten nur in Gedankenexperimenten gegeneinander auf.

 

Engels erstes Buch heißt „Die Lage der arbeitenden Klasse in England”. Es ist eine minutiöse Dokumentation der Lebens- und Arbeitsbedingungen der unteren Klasse in Manchester, und er schrieb es mit vierundzwanzig. Zu dieser Zeit verbrachte er den größten Teil seiner freien Zeit im Manchester der Arbeiter, einer Welt, zu der seine spätere Partnerin, die Baumwollspinnerin Mary Burns, ihm umfassend Zutritt verschaffte, und sammelte jedes Detail, das er finden konnte. Das Buch enthält über Seiten hinweg Erfahrungsberichte der Kinder in den Fabriken. Es enthält die Sterblichkeitsraten und die Berufskrankheiten. In erster Linie tritt der Autor darin als Zeuge auf, erneut als der Mann, der nicht einschreitet, der nicht die Revolte anführt, der die Fabrik sogar teilweise besitzt. Aber auch Zeugenschaft ist eine Art, Verantwortung zu übernehmen.

Für die Philosophie ebenso wie für die Literatur ist die Annahme wichtig, dass wir die Welt dadurch formen, dass und wie wir sie beschreiben. Sprache allein verändert die Welt nicht, aber welche Umstände einen Zeugen, und welche Aussagen Gehör finden, macht einen Unterschied, auch wenn es sich wie ein Placebo anfühlt.

Die britische Arbeiterklasse war in der Realität weder so homogen in ihrem Elend noch so vereinigt, wie Engels sie beschrieb. Das war eine Interpretation der Ereignisse, eine kosmetische Korrektur an der Komplexität des Geschehens. Es hat seine Wirkung nicht verfehlt.
Das paradoxe ist also: Friedrich Engels hat die Welt verändert, indem er sie interpretiert hat. Die Empörung, die seine Interpretation auslöste, hatte Taten zur Folge, auch dadurch, dass er durch seine durchaus polemische Darstellung sein eigenes Mitgefühl übertrug. Diese Art der Zeugenschaft ist eine Handlung, denn, und vielleicht hebt das einen Widerspruch auf: Auch Revolutionen werden aus Fürsorge begonnen. Es geht dabei um die Wut über Lebensbedingungen, die man nicht mehr bereit ist mit anzusehen, es geht um den Brotpreis, die Miete, die Zukunftschancen der eigenen Kinder, die Würde und Sicherheit des Nachbarn und der Geschwister, basale Dinge.

 

 

Die Autorin

Josefine Berkholz wurde 1994 in Durham, North Carolina geboren und schreibt Lyrik, Performatives und Essayistik. Von 2013-2017 Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, sowie seit 2018 in Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2009 ist sie als Spokenwordautorin aktiv, 2010 war sie deutschsprachige Vizemeisterin im Poetry Slam in der Kategorie u20, seither Auftritte u.a. für das Goethe Institut, das Haus für Poesie, den MDR und Arte. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien.
 
Fußnote:

1. Die Diskussion, ob oder ob nicht man dabei seine Seele verkauft, scheitert in der akademischen Philosophie meist an der höherstufigen und ebenfalls ungeklärten Frage, ob der Mensch überhaupt eine Seele hat.
Veröffentlicht am 30.05.2020

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