Blog | Essaywettbewerb - Friedrich Engels

Paul Jennerjahn - eingereicht am 30.5.2020

161 Rue Saint-Honoré

Friedrich Engels - VORGESTERN, GESTERN, MORGEN?

Damals war Engels ferner denn je. Ich stand am Rand der riesigen Kreuzung, an der Rue Saint-Honoré, Rue de Richelieu, Avenue de l´Opéra und Rue de Rohan aufeinandertreffen, Busse polterten ungestüm über das Kopfsteinpflaster, und schräg gegenüber der Comédie Française wurden hinter bodentiefen, polierten Scheiben Reisen nach Marokko verkauft, 161 Rue Saint-Honoré. Das ehemalige Café de la Régence geschlossen also, ein Reisebüro an seiner statt, doch dann ließ ich den Blick schweifen und rieb mir die Augen: Café de la Régence, in anthraziten Majuskeln auf dem schneeweißen Markisenstoff drei Häusereingänge weiter, Nummer 167. Für einen Wimperschlag hoffte ich, unsauber recherchiert zu haben. Aber die sieben Flaggen auf der Tafel waren nicht zu übersehen, sieben Sprachen, für jeden Touristen etwas dabei. Die Preise also nicht an den Händen abzuzählen, konnte ich mir zusammenreimen. Regen begann schräg in die Straßenschlucht zu fallen, und ich wollte mitweinen mit den Pariser Wolken. Über meine Naivität, ernsthaft zu glauben, Engels nahe zu kommen, bloß indem ich die Koordinaten seiner Pariser Zeit aufsuchte. Ich bin ein hoffnungsloser Romantisierer – ja: vielleicht Verklärer – meiner Hausgötter, ich stand schon schweigend am Grab von Rilke in der dünnen Höhenluft der Schweizer Alpen, lauschend nach seiner Gegenwart.

Aber hier im ersten Arrondissement blieb es still, von Engels war nichts zu sehen und nichts zu hören, dafür war es viel zu laut. Von jenem Engels, dem überragenden Denker, dem brillanten Autor, der mir immer schon eine Spur sympathischer war als der kommunistische Maestro, weil er immer in dessen Schatten stand, immer zweite Violine war, weil er immer einen Atemzug nach Marx genannt wird. Kaum auszumalen, was passiert wäre, eher: was nicht passiert wäre, hätten nicht Marx und der Fabrikantensohn aus dem prüden, pietistischen Barmen im Café de la Régence in der 161 Rue Saint-Honoré das alkoholvernebelte Fundament ihrer Freundschaft gelegt, die intellektuelle Berge versetzen sollte. Als ich Marx im Sommer 1844 besuchte, schrieb Engels später, stellte sich unsere vollständige Übereinstimmung auf allen theoretischen Gebieten heraus, und von da an datiert unsre gemeinsame Arbeit. Engels reiste in diesem Sommer aus Manchester zurück nach Wuppertal, ein Abstecher führte ihn zu Marx nach Paris. In seinem Gepäck: kiloweise Empörung und Fremdheit.

Zwei Jahre zuvor hatte sein Vater ihn nach Engels´ Rückkehr aus Berlin in die Dependance der Familienfirma Ermen & Engels auf die Insel geschickt, aber auch hier unterlag Engels´ Unternehmertum seinem genauen Hinsehen, dem Nachdenken, dem Schreiben. In Manchester hatten sich Engels´ einst glühende Sympathien für die idealistische Philosophie Hegels endgültig abgekühlt. Die Empirie der englischen Industrialisierung stand in krassestem Widerspruch zu Hegels Annahme, die Geschichte der Menschheit schriebe sich in der Dialektik der Ideen: Engels sah kaum fassliches Elend. Die Cottages sind alt, schmutzig und von der kleinsten Sorte, berichtet Engels ein Jahr nach dem Pariser Sommer mit Marx in seiner Lage der arbeitenden Klasse in England über die Arbeiterbezirke von Manchester, die Straßen uneben, holperig und zum Teil ungepflastert und ohne Abflüsse; eine Unmasse Unrat, Abfall und ekelhafter Kot liegt zwischen stehenden Lachen überall herum ... Das Geschlecht, das in diesen verfallenden Cottages, hinter den zerbrochenen und mit Ölleinwand verklebten Fenstern, den rissigen Türen und abfaulenden Pfosten oder gar in den finstern nassen Kellern, zwischen diesem grenzenlosen Schmutz und Gestank in dieser wie absichtlich eingesperrten Atmosphäre lebt – das Geschlecht muss wirklich auf der niedrigsten Stufe der Menschheit stehn.

Nicht Ideen, sondern die materiellen Verhältnisse mussten die Motoren der Geschichte sein. Vielleicht war schon Manchester die Geburtsstunde der materialistischen Geschichtsphilosophie, die Engels und Marx später formulieren sollten. Selbst das Kapital scheint Engels schon in Manchester vorwegzunehmen. Über die englische Ökonomie zur Zeit der Industrialisierung heißt es in seinen Umrissen zu einer Kritik der Nationalökonomie, über 20 Jahre vor Erscheinen von Marx´ Monumentalwerk: Wir haben durch sie die tiefste Erniedrigung der Menschheit, ihre Abhängigkeit vom Konkurrenzverhältnis kennengelernt; sie hat uns gezeigt, wie in letzter Instanz das Privateigentum den Menschen zu einer Ware gemacht hat, deren Erzeugung und Vernichtung auch nur von der Nachfrage abhängt.

Engels hatte diesen Riecher, eine untrügliche Intuition für das Unrecht und die Mechanismen, mit denen die Mächtigen es aufrechterhielten, und er schrieb exzellente Reportagen und Studien: Ich war in Ehrfurcht erstarrt, als ich seine Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie und Die Lage der arbeitenden Klasse in England gelesen hatte – Texte, die er mit Mitte 20 geschrieben hatte, unter dem Eindruck von Manchester. Dort sah Engels, mit unscharfer Kontur vielleicht noch, was er in den nächsten 50 Jahren intellektuell ausschlachten würde. Manchester war das Material, aus dem Engels seine Theorien schmieden würde, das Futter – und das Gepäck, mit dem er zu Marx nach Paris reiste.

Als ich im Nieselregen durch das erste Arrondissement lief, war keine Spur von Engels geblieben, ein leises Echo höchstens, nur der Name des Café de la Régence, mit dem sich jetzt ein Restaurant ein paar Häuser weiter schmückte, um Touristen zu locken. Ich lief die Rue Saint-Honoré hinunter, blickte in eingetretene Kaugummis, Zigarettenstummel zu meinen Füßen. Erst letzten Sommer hatten die Gelbwesten die Stadt und das Land in Atem gehalten, hatten die Hochglanz-Schaufenster der Champs-Élysées in Scherbenmeere verwandelt. Und nun drohte die nächste Protestwelle. Le Monde titelte seit Tagen mit 49.3, jenem Artikel, der der Regierung Gesetzeserlässe am Parlament vorbei erlaubt – und den der Premierminister auslösen wollte, um der wochenlangen Debatte der Assemblée nationale über die geplanten Rentenkürzungen ein Ende zu bereiten. Jener Premierminister, dessen Präsident eingeknickt war vor dem Strafzölle-Drohmantra des amerikanischen Präsidenten, der das französische „Experiment" vergelten würde, Amazon, Google und Co. endlich steuerlich an der Finanzierung hiesiger Gemeinwesen zu beteiligen, wie man es von Unternehmen erwarten dürfen sollte, die hierzulange Milliardengewinne erwirtschaften. Jener Premierminister, der letzten Endes doch den Text der Tragödie des schrankenlosen globalisierten Turbo-Kapitalismus bis ins letzte Komma auswendig gelernt hatte.

Wie eine Peripetie wird in diesem Theaterstück Kosmetik an den erodierenden Sozialstaaten des Westens wie die temporäre Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung von Sozialversicherungsbeiträgen durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber gefeiert. Wer staatliche Interventionen im Niedriglohnsektor oder in der Fleischindustrie fordert, der wolle Planwirtschaft, wird ihm vorgeworfen. Mit den richtigen Zahlen haben wir unser Bewusstsein für den ökologischen Kollaps sediert, für unsere historischen Depressions- und Burnout-Raten, für die Gräben zwischen uns, in denen sich Rechtspopulisten und Faschisten breitmachen, die mittlerweile wieder in Parlamenten sitzen. Unsere Pro-Kopf-Einkommen sind heute zehn Mal so hoch wie zu Engels´ Lebzeiten. Noch nie litten und starben so wenige Menschen auf der Welt an Mangelernährung wie heute; mittlerweile sind weitaus mehr Menschen von Fettleibigkeit betroffen. Absolute Armut ist weltweit auf einen historischen Tiefstand gesunken, genauso wie die Kinder- und Müttersterblichkeit, und es sind so viele Kinder gegen Masern geimpft, es erhalten so viele Kinder Schulbildung wie nie zuvor. Mehrere der weltweit wachstumsstärksten Volkwirtschaften befinden sich mittlerweile auf dem afrikanischen Kontinent, der sich – langsam, sehr langsam – aus der Ausbeutung des Westens zu befreien beginnt. In Deutschland hatten kürzlich so viele Menschen einen Job wie noch nie in der Geschichte dieses Landes, und wenn sie ihn verlieren, müssen die wenigsten von ihnen um ihr Dach über dem Kopf fürchten. Zu erklären, warum es uns so schlecht geht, obwohl es uns so gut geht, wird künftig die zentrale intellektuelle Herausforderung von linker Kapitalismuskritik sein.

Ich war umgedreht, hatte nur einmal kurz den Blick gehoben und über die Fahrbahn der Rue Saint-Honoré auf die andere Straßenseite gewechselt, und fragte mich wieder verzweifelt, ob nicht irgendwann in jenem Sommer 1844 Engels auf seinem Weg zu einem der Gelage mit Marx im Café de la Régence seinen Absatz in einen der Pflastersteine gedrückt haben musste, auf denen ich mir meinen Weg durch die Touristen bahnte. Ich war nicht besser als sie, die teils von sehr viel weiter eingeflogen waren als ich, die in Horden ihre Selfiesticks in die richtigen Entfernungen und Winkel vor ihre Gesichter schwenkten oder einzeln ihre Rollkoffer übers Pflaster ratterten, und ich ahnte noch nicht, dass ein paar Wochen später ein Virus von einem chinesischen Fischmarkt aus die Welt erobern und den Volkswirtschaften rund um den Globus den Boden unter den Füßen wegreißen sollte. Der deutsche Fiskus würde sich, um das wirtschaftliche Inferno abzuwenden, mit schwindelerregenden Summen verschulden, die eine weitere Dekade Austerität gebieten würden, und im ganzen Land gäbe es nach einigen Tagen keine Schutzmasken mehr; in Frankreich würde die „Wirtschaftsleistung", wie sie gegenwärtig gemessen wird, binnen eines Monats um rund 40 Prozent schrumpfen; über 20 Millionen Amerikaner verlören im selben Zeitraum ihren Job. Wegen eines Virus, das in einer chinesischen Großstadt ausgebrochen war.

Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel, konstatieren Engels und Marx vier Jahre nach ihrem Gelage im Café de la Régence. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Verbindungen, die uns kostbare Freiheiten beschert haben, deren Dichte aber rund 170 Jahre nach Erscheinen des Manifest ihre kolossalen Fliehkräfte vor unser aller Augen beweisen. Die Hyperglobalisierung lässt die Weltwirtschaft wie ein Kartenhaus zusammenfallen, und ihr vorübergehender Stillstand bannte für kurze Zeit alle die tiefroten Areale, in denen sämtliche Kohlenstoff- und Feinstaub-Grenzwerte sonst um ein Vielfaches überschritten werden, aus den animierten Weltkarten der Klimawissenschaftler.

Schon vor der Krise waren Einkommen und Vermögen so ungleich verteilt, zumal in Deutschland, wie man es lange nicht mehr gesehen hatte. Die vermögendsten zehn Prozent der Deutschen besaßen über die Hälfte allen Vermögens, die untere Hälfte dagegen 1,3 Prozent. Und dann kam die Krise. Und dann mehrte der Chef des größten Online-Versandhändlers der Welt sein Privatvermögen innerhalb von vier Monaten um 24 Milliarden auf knapp 140 Milliarden Dollar, während die US-Arbeitslosenquote auf über 15 Prozent kletterte. Die wesentliche Bedingung für die Existenz und für die Herrschaft der Bourgeoisklasse ist die Anhäufung des Reichtums in den Händen von Privaten, die Bildung und Vermehrung des Kapitals; die Bedingung des Kapitals ist die Lohnarbeit. Als hätten Engels und Marx das Manifest im Angesicht der gegenwärtigen Krise geschrieben. Weil einige so wenig haben, explodieren Einkommen und Vermögen einiger weniger, weil wir diese unfassbaren Klima- und Umweltsünden, weil wir Niedriglöhne, Steuerparadiese und eine virophile Wirtschaft zulassen. Selten ist diese Einsicht Engels´ so anschaulich gewesen.

Wenigstens in dieser Hinsicht schlug mein Herz in diesen Wochen höher: Jetzt musste es doch so weit sein, die Tage des enthemmten globalisierten Kapitalismus gezählt, sein Ende nah, jedenfalls eine wesentlich kürzere, wesentlich straffere Leine, an der der Staat ihn fortan halten würde. Vielleicht würden Unternehmensgewinne steuerlich begrenzt, soziale Sicherungsnetze arbeitgeberfinanziert dichter geknüpft, wenigstens würden Autobauern und Luftfahrtbranche Dekarbonisierungsstrategien abverlangt, Staatshilfen nur nachhaltig wirtschaftenden Unternehmen gewährt.

Und wie gedachte die internationale Staatengemeinschaft die Krise der Märkte zu überwinden? Wodurch also? Wiederum als hätten Engels und Marx auf die Pandemie geantwortet: Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert. Einige Wochen genügten und von Washington über Berlin bis Paris setzte das erbittertste Wettrennen um die raschesten und umfassendsten Öffnungen ein, wurden alle politischen Energien daran gesetzt, möglichst schnell zu genau jener Art und Weise des Wirtschaftens und gesellschaftlichen Zusammenlebens zurückzufinden, mit der wir im März in die Krise geraten waren. In den Umfragen stürzen die progressiven Kräfte ab, während die konservative Bundesregierung ihre neuen Zustimmungswerte kaum glauben kann, obwohl ja gerade ihr Nachtwächterstaat die Krise erst provoziert und ihre Post-Krisen-Politik die Saat der nächsten Krisen schon gesät hat. Das Weiter-so erhält unseren Beifall. Nicht mal aus der Pandemie lernen wir. Es ist nicht viel Revolutionäres zu merken, die lange Prosperität hat furchtbar demoralisiert, schrieb Engels am 17. Dezember 1857 niedergeschlagen an Marx, und wir standen der Weltwirtschaftskrise von 1857 in der Corona-Krise in nichts nach, dachte ich einige Wochen nach Paris an meinem Schreibtisch. Auch nach der Finanzkrise von 2008 und inmitten der ökologischen Katastrophe tolerierte doch der Staat Finanzspekulantentum und Raubbau an der Natur als Geschäftsmodelle - warum sollte jetzt also Revolutionäres zu merken sein? Hinter den Scheiben des zweiflügeligen Fensters flirrte das erste warme Mailicht im Laub der weit ausgreifenden Ahornkrone. Meine Hoffnungen in der Pandemie waren noch naiver als jene in Paris.

Ich war zurück vor der 161, in den bodentiefen Schaufenstern die Spiegelungen der lärmenden Kreuzung, von Passanten, dazwischen nur die undeutlichen Schemen des Mobiliars jenes marokkanischen Reisebüros, das statt des Café de la Régence hier residierte. Ich sah mein eigenes Spiegelbild. Ich war auch nur jemand, der zu einer Reise aufgebrochen war – in diese Stadt, die unter den Touristenmassen erdrückt wurde. Ich spürte die Enge in meinem Hals, in meinem Brustkorb. Wie hatte Engels diese Fremdheit nur ausgehalten?

1850 war er zurück nach Manchester gegangen und sollte dort für zwanzig Jahre in der Dependance des Familienunternehmens ein kaum vorstellbares Doppelleben führen. Tagsüber wurde Engels, der auf dem Kontinent wegen seiner umstürzlerischen sozialistischen Aktivitäten von den Behörden verfolgt worden war, zum Global-Kapitalisten par excellence. Seine Gewinne erwirtschaftete Ermen & Engels, dessen Geschicke Engels nach dem Tod seines Vaters gemeinsam mit den Geschäftspartnern lenkte, mit der Ausbeutung der eigenen Belegschaft in Manchester und der Sklaven auf den Baumwollplantagen der amerikanischen Südstaaten, aus denen das Unternehmen Baumwolle genauso importierte wie Stoffe der indischen Textilindustrie, die die britischen Kolonisatoren für ihre Zwecke eingespannt hatten. Derart finanziert strich Engels ein reichliches Einkommen ein, mit dem er einen geradezu aristokratischen Lebensstil in den viktorianischen Bourgeois-Kreisen von Manchester, in Jagdgesellschaften und Klubs und in der Börse bestritt – und die Unterstützung seines großen Freundes.

Die Rechtfertigung für Engels´ Leben im Herzen der verhassten Bourgeoisie waren die 23 Jahre, die Marx in London studierte, las, am Kapital schrieb – diese ganze ökonomische Scheiße, schrieb Engels ihm später – und Sparsamkeit nicht einsehen wollte. Die Opfer, die Engels für seinen Freund erbrachte, waren gewaltig. Wie sehr er sich der Sache des Sozialismus verschrieben hatte, wie unerschütterlich sein Glaube an eine bessere Gesellschaft gewesen sein musste, faszinierte mich an Friedrich Engels am meisten. Für Marx´ unehelichen Sohn ließ Engels sich als Vater eintragen und für das Kapital, das der Revolution auf die Sprünge helfen sollte, verstrickte er sich auf dem Chefsessel eines globalen Großkonzerns in den qualvollsten Widersprüchen. Um das globalkapitalistische System abzuschaffen, arbeitete Engels tagsüber nach Kräften an dessen Reproduktion.

Nachts blieb er der sozialistische Revoluzzer, nicht mehr auf der Straße, aber im Geiste. Engels´ Hunger nach dem Wissen, das ihm die Welt und den bevorstehenden Umsturz erklärte, war unglaublich. Er studierte Mathematik, Naturwissenschaften, Militärwesen, trieb die Verwissenschaftlichung des Sozialismus voran und beherrschte nebenbei 12 Sprachen aktiv, zwanzig passiv, publizierte unermüdlich Artikel in Zeitungen. Engels schuftete Nacht für Nacht für den Tag, an dem er seine Komplizenschaft mit dem Kapitalismus aufkündigen würde. Über sein Arbeitsethos schrieb Marx einem Freund, Engels sei arbeitsfähig zu jeder Stunde des Tages und der Nacht, nüchtern und voll, quick im Schreiben und Begreifen wie der Teufel. Kein Wunder, dachte ich, dass Engels im Sommer 1857 unter dieser Arbeitslast, unter den schmerzhaften Spannungen in seinem Leben und ihren psychosomatischen Folgen zusammenbrach. Zunächst war er, wie er Marx in einem Brief mitteilte, an seinem Gesicht in einem fort beschäftigt, erst Zahnschmerzen, dann geschwollne Backe, dann wieder Zahnschmerzen, jetzt endlich die Blüte des Ganzen in einer Furunkel. Einige Wochen später ereilte ihn ein schweres Drüsenfieber, und er litt an Depressionen.

Als der Weltengänger aus der Firma schied, berichtete er seinem großen Freund am 1. Juli 1869: Hurra! Heute ist´s mit dem doux commerce am Ende, und ich bin ein freier Mann! Und an seine Mutter in Barmen schrieb Engels an diesem ersten Tag nach seiner Fremdheit: Heute ist der erste Tag meiner Freiheit.

Wenigstens das hat das Virus geschafft: wir sind wieder in der Lage, Entfremdung zu spüren, als ein körperlich-sinnliches Gefühl. Unsere abgestumpften Seismografen für Erfahrungen des echten In-die-Welt-gestellt-seins – was Kontakte mit Menschen angeht jedenfalls – schlagen wieder aus, wenn auch ins Negative: Freunde erzählen mir, und auch ich erfahre, wie sehr den online abgehaltenen Videokonferenzen mit geliebten Menschen die Sinnlichkeit der Begegnung fehlt. Andere zu riechen, anzufassen, ihre Stimmen nicht mittelbar durch ein Mikrofon zu hören, ihre Gesichter nicht von Zeit zu Zeit verpixelt oder eingefroren und nicht bloß zweidimensional auf einem Bildschirm zu sehen – wie sehr unsere Beziehung zur Welt um uns herum auf all das angewiesen ist und wie sehr ihr Fehlen Fremdheit und Unbehagen in uns auslöst, könnte eine der wichtigsten Erkenntnisse aus dieser Krise sein, die anders als die Finanz- oder Klimakrise unmittelbar unsere Körper affiziert, unseren Bewegungsradius radikal verengt.

Andersherum ein positiver Ausschlag des Seismografen in mir ist die Entdeckung, wie viel Zeit ich im Allgemeinen aufgewendet habe für Veranstaltungen, von denen ich einige wohl auch deshalb besucht habe, weil ich dachte, ich müsse. Der Literaturbetrieb funktioniert weitestgehend nach der Logik von Märkten: Man muss kämpfen um Türen, die in ihn hineinführen, um Aufmerksamkeit, muss über die vielen großartigen Menschen hinaus, die ich dort kennengelernt habe, jeden erdenklichen Kontakt knüpfen, sollte es jedenfalls, was schüchterne Autoren wie mich Überwindung kostet. Aber analoge Lesungen finden nicht mehr statt und die Zeit, die ich für letztere Kontakte aufgebracht habe, bleibt mir nun frei. Es ist eine Zeit der aufgeschobenen Dinge geworden, die keine Fristen und Deadlines haben und deshalb niemals Priorität genießen für uns chronisch Zeitarme: Ich habe ausgemistet. Ich lese mich endlich in die hintersten, aber intimsten Winkel der Werke meiner Hausgötter, Tagebücher, Briefwechsel, Georg Heym, Paul Zech, Friedrich Engels. Es ist eine leise Zeit, in der ich mich eigenartig verbunden fühle mit der Welt, obwohl ich über Wochen kaum einen Menschen getroffen habe, in der ich hineinhorche in die Stille – eine gute Zeit, um Gedichte zu schreiben.

Es gibt ihn, diesen Radar in uns, eine Sensitivität für die ungeheuerliche Entfremdung von unserer Umwelt, die wir in Vorkrisenzeiten so lange in apathischer Kapitulation hingenommen haben. Ein Lichtblick, winzig klein, für das Aufbegehren: Dass wir verstehen, dass wir in der Pandemie wieder fähig werden, uns zu spüren, weil wir für einen Moment aus unserem Konkurrenz- und Beschleunigungsmodell heraustreten und es von außen betrachten. Dass es uns in ihm so schlecht geht, weil es uns so gut geht.

Vielleicht ist es diese Fremdheit, die wir spüren oder nicht, dieses konkrete, körperliche Gefühl, das zukünftig ein Maßstab, das für Engels entscheidender gewesen sein könnte als die empörenden Zahlen oder als die theoretischen Monster, die er in kiloschweren Ziegelsteinen nachgelesen hatte und mit Marx schließlich selbst niederschrieb. Auch seinen großen Freund hatte er doch bei dessen Arbeit am Kapital, die Engels mitnichten bloß finanziell unterstützte, immer wieder zur Einfachheit ermahnt: Du hast den großen Fehler begangen, schrieb er ihm, den Gedankengang dieser abstrakten Entwicklungen nicht durch mehr kleine Unterabteilungen und Separat-Überschriften anschaulich zu machen. Diesen Teil hättest du behandeln sollen in der Art, wie die hegelsche Enzyklopädie ... Das Ding würde etwas schulmeisterlich ausgesehen haben, das Verständnis für eine sehr große Klasse Leser aber wesentlich erleichtert worden sein. Schön wäre das gewesen.

Es war kurz nach drei und über der Rue Saint-Honoré drängten sich dichte Quellwolken, als ich aufbrach. Der Regen hatte aufgehört, und ich ging durch das zweite Arrondissement, über den Boulevard de Strasbourg, auf dem Boulevard de Magenta unter den sandfarbenen Jugendstilfassaden und an den beiden imposanten Bahnhöfen vorüber, Gare de l´Est und Gare du Nord, stieg die endlosen flachen Stufen zu dem Zimmer hinauf, in dem ich im sechsten Stock unter dem Dach wohnte. Über den Nachmittag war es ausgekühlt, ich drehte am Thermostat des viel zu schmalen Heizkörpers hinter der Tür und kochte Tee, setzte mich an den kleinen Schreibtisch mit der gläsernen Tischplatte. Schon im Gehen hatte ich die Schwingungen gespürt, meinen Antrieb: diese Fremdheit in mir und eine Ahnung von etwas, mit dem ich ihr begegnen würde. Kurz dachte ich an Engels, dass man solche Reportagen schreiben können müsste wie er über Manchester oder Barmen, solche Gedichte wie er in seinen jungen Jahren, aber dann verging auch das und da war nur noch das Papier, dessen feine Körnung ich unter den Fingerkuppen spüren konnte, und der Stift, die Kanten seines sechseckigen Schafts, die in meine Finger schnitten, und ich schrieb.

 

 

Der Autor

Paul Jennerjahn, geboren 1993, ist Autor. Er studierte Germanistik und Sozialwissenschaften und lebt und arbeitet in Hamburg und Wuppertal. 2015 war er Finalist beim Hattinger Förderpreis für junge Literatur, 2019 erhielt er eine lobende Erwähnung beim Literatur-Update-Preis. Seine Erzählungen und Gedichte werden in Zeitschriften veröffentlicht.

Veröffentlicht am 30.05.2020

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